In der VG Rüdesheim könnte der größte On-Shore-Windkraftpark deutschlandweit in der Hand eines einzigen Betreibers entstehen. Was spricht dafür, was dagegen: ein Doppelinterview.
Verbandsgemeinde Rüdesheim. In der Verbandsgemeinde Rüdesheim könnten sich künftig auf mehreren Flächen mit insgesamt rund 850 Hektar mehr als 30 Windräder drehen. Für eine entsprechende Ausweisung im Flächennutzungsplan hatte der Verbandsgemeinderat gestimmt, es folgen die Offenlage sowie die faunistische Prüfung (wir berichteten). Während die Initiative Soonwald das Vorhaben ablehnt, sprechen sich die Grünen in der Verbandsgemeinde dafür aus. Wir haben uns mit Monika Kirschner, Sprecherin der Initiative Soonwald, sowie Stefan Boxler, Gemeindeverbandsvorsitzender der Grünen in der VG Rüdesheim, darüber unterhalten.
Wissenschaftler sind der Auffassung, dass die Stromversorgung Deutschlands rein aus erneuerbaren Energien möglich wäre. Ist das nicht eine verlockende Vorstellung, gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen Energiekrise?
Kirschner: Leider sieht es nicht ganz so rosig aus. Solange es keine Lösung für Speicher gibt, wird man die Grundversorgung nicht mit erneuerbaren Energien herstellen können. Doch zu uns: Wir stehen vor einer historischen Entscheidung über die Zukunft unserer Heimat. Es gibt keinen Vergleich in unserer Vorgeschichte von einer ähnlich radikalen menschengemachten Umgestaltung unserer Landschaft wie die, die jetzt angedacht ist. Bezieht man die VG Nahe-Glan mit ein, gehen wir zurzeit von gut 110 geplante Windräder aus, wobei die Dunkelziffer beträchtlich höher liegen dürfte. Dabei geht es um 300 Meter hohe Windräder der allerneuesten Generation, die das Landschaftsbild massiv verändern werden.
Boxler: Eine Energieversorgung in Deutschland nicht nur für Strom, sondern auch für Wärme, ist mit 100 Prozent erneuerbaren Energien möglich. Dies kann ohne jegliche Importe von Energie, wie etwa Öl und Gas, also nur auf Basis von Ressourcen, die in Deutschland zur Verfügung stehen, erfolgen. Nach erfolgter Umstellung des Energiesystems sind die jährlichen Gesamtkosten nicht höher als die Kosten unserer heutigen Energieversorgung.
Das Land Rheinland-Pfalz schreibt vor, dass 2,2 Prozent der Flächen für Windkraft ausgewiesen werden sollen. Mit dem Windpark, den die Verbandsgemeinde Rüdesheim derzeit plant, wäre die VG Rüdesheim allerdings bei mehr als vier Prozent. Wird der ländliche Raum wirklich, wie von Ihnen behauptet Frau Kirschner, zum ausgebeuteten Hinterhof der Städte?
Kirschner: Der Strom wird hauptsächlich in den Städten und in der Industrie benötigt. Der ländliche Raum soll liefern. Dabei geht es um eine Machtfrage. Auf dem Land leben weniger Menschen und damit auch weniger Wähler. Die akute Gefahr ist, dass die Schere zwischen den Lebensbedingungen im städtischen Raum und auf dem Land immer mehr auseinanderdriften; zum Nachteil des Landes. Der ländliche Raum wird zur Versorgungsfläche für die Metropolen, während gleichzeitig der Naturschutz auf der Resterampe landet.
Boxler: Von einer Entwicklung hin zu reinen Energielandschaften, wie es seitens Heimatpflegevereinen und einzelnen Naturschutzverbänden befürchtet wird, ist man jedoch weit entfernt. Dennoch hat der bisherige Ausbau den Nutzungsdruck auf den ländlichen Raum erhöht und zu Flächennutzungskonkurrenz geführt. Diskussionen um die zukünftige Bedeutung des ländlichen Raumes als Standort für neue Technologien erscheinen daher angebracht. Durch die dichte Bebauung im Nahetal ist nur an wenigen Standorten in Randbereichen eine Errichtung von Windkraftanlagen möglich.
Ist das aber nicht der Preis, den wir zahlen müssen? Wer den Energiewechsel möchte, muss das auch im näheren Umfeld zulassen, oder nicht?
Kirschner: Wir müssen auf der Basis des Wissens unserer Zeit handeln, mit Vernunft und Augenmaß. Das bedeutet konkret eine „Grüne Transformation” im soliden Energie-Mix. In einer sonnenreichen und eher windarmen Region, wie bei uns, ist das in erster Linie Solarenergie, wie zum Beispiel Fotovoltaik an und auf Gebäuden. Und es braucht durchgreifende Änderungen im Verkehr, Baurecht und in der Ernährung. Die ganze Wahrheit ist: Wir stehen an einem Wendepunkt unseres Lebensstils. Nur Energiesparen und Konsumverzicht werden aktuell tatsächlich weiterhelfen.
Boxler: Der Ukraine-Krieg führt dazu, sich so schnell wie möglich von fossilen Energieträgern zu lösen. Für Energiewende und Klimaschutz ist der weitere Ausbau der Windenergie an Land unabdingbar. Dafür braucht es vor allem eines: ausreichend geeignete Flächen. Um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen, müssen die Ausbaupfade für Wind an Land langfristig etwa zwei Prozent der Landesfläche für eine Nutzung durch die Windenergie zur Verfügung stehen.
Neben der Möglichkeit in Sachen Energie unabhängiger vom Ausland und fossilen Brennstoffen zu werden, sind auch die Pacht-Einnahmen verlockend für die Kommunen. Sollte man diesen schönen Nebeneffekt mitnehmen oder verhindert er eine neutrale Abwägung der Vor- und Nachteile eines Windparks?
Kirschner: Ich wundere mich darüber, wie auf einmal mehrheitlich akzeptiert wird, dass eine subventionierte Industrie, die Windkraftindustrie, für die angemessene Infrastruktur in unseren Dörfern sorgen soll? Dabei ist es, laut Grundgesetz, Aufgabe des Staates für „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ zu sorgen: in Stadt und Land. Wenn sich Bürgermeister und Gemeinderäte gezwungen sehen, Windkraftanlagen zu bauen, um ihre Dörfer am Leben zu halten, ist das für mich ein Versagen des Staates. Es geht also nicht - wie in der Frage unterstellt - um einen „schönen Nebeneffekt”. Es geht um sehr viel Geld. Wie soll da eine „neutrale Abwägung” der Vor- und Nachteile möglich sein?
Boxler: Mehr Windenergie hilft nicht nur dabei, die von der Regierung sowie der EU gesetzten Klimaschutzziele zu erreichen. Mehr Windenergie kann in vielen Bereichen zu positiven finanziellen Auswirkungen führen. Neben den Pacht- und Gewerbesteuereinnahmen ist es den Kommunen möglich, damit einen Teil ihrer Aufgaben zu finanzieren. Durch das Instrument des „Solidarpakts“ – das ist die freiwillige Teilung wirtschaftlicher Vorteile auf alle Ortsgemeinden einer Verbandsgemeinde – werden die Bürgerinnen und Bürgern indirekt an den Windenergieanlagen beteiligt, was zu mehr Akzeptanz führen wird. Davon profitieren alle Bürger der Verbandsgemeinde Rüdesheim.
Mehr Windenergie hilft nicht nur dabei, die von der Regierung sowie der EU gesetzten Klimaschutzziele zu erreichen. Mehr Windenergie kann in vielen Bereichen zu positiven finanziellen Auswirkungen führen.
Klimaschutz ist nicht automatisch auch Naturschutz. Wälder generell, gerade der Soonwald, bestechen durch ihren eigenen ökologischen Nutzen etwa hinsichtlich der CO2-Bindung, der Grundwasserbildung oder auch des Artenreichtums. Wozu brauchen wir aufwendige Programme zum Erhalt der Biodiversität, wenn Waldflächen oder Teile von ihnen dann der Windkraft weichen müssen?
Kirschner: Man kann im Leben nicht alles haben: ein gesundes Ökosystem Soonwald und darin industrielle Großanlagen. Beides ist nicht vereinbar. Der Wert des Waldes besteht eben nicht in einzelnen Bäumen, sondern aus einem interaktiven Organismus von mehr als 100.000 - mehrheitlich gefährdeten - Arten. Auch angesichts des bedrohlichen Wassermangels können wir auf gesunde Wälder nicht verzichten. Man kann einem Menschen auch nicht immer mehr Organe entnehmen und weiter hoffen, dass der Organismus alles verkraftet und nicht irgendwann zusammenklappt. Unsere Unwissenheit ist hier weit größer als unser Wissen. Das macht die geplanten Bauten so überaus brisant.
Boxler: Auch deswegen hat die Verbandsgemeinde Rüdesheim gar keine Potenzialflächen in den Höhenlagen des Soonwaldes ausgewiesen. Dies würde auch der aktuellen Landesverordnung über den „Naturpark Soonwald-Nahe“ widersprechen. Dort heißt es ganz klar und unmissverständlich: In den Kernzonen ist es verboten, Anlagen aller Art einschließlich Windenergieanlagen zu errichten. Zudem werden nur kleine, geeignete Waldflächen, aber keine alten Buchen- oder Eichenbestände, in Anspruch genommen.
Frau Kirschner: Warum lehnen Sie den von der VG-Rüdesheim angedachten Windpark ab?
Ich kann keine Pläne ablehnen, die ich noch nicht kenne. Allerdings finde ich, was bekannt geworden ist, maßlos. Die Situation, die wir aktuell erleben, basiert auf einer - schon einige Jahre alten - Fehlentscheidung unserer Landesregierung. Sie hat beschlossen, die Entscheidung über Windkraftanlagen auf die unterste Ebene der Verwaltung, den Gemeinderäten, zu übergeben. Eine solche prinzipielle Gestaltungsaufgabe gehört für mich eindeutig auf die höchste Ebene des Landes. Genauso wie mögliche Einnahmen allen Bürgern gehören. Bei einer landesweiten Planung hätte man Windkraftanlagen gebündelt in Industriegebieten, entlang der Autobahnen, auf Konversionsflächen etc. aufstellen können. Dazukommt immer mehr Staat, immer mehr Vorgaben und Gängelung, immer weniger Naturschutz.
Herr Boxler: Warum befürworten die Grünen das Vorhaben hingegen?
Im Zuge der frühzeitigen Beteiligung am Teilflächennutzungsplan für die Windenergie wurde der Vorwurf erhoben, dass die Planung der Verbandsgemeinde der Nutzung der Windenergie nicht ausreichend Raum gegeben werde und daher unzulässig sei. Vor diesem Hintergrund erfolgte eine Neubewertung der getroffenen Ausschlusskriterien. Hieraus ergaben sich neue Potenzialflächen. Es wird ja nicht den einen großen Windpark von 850 Hektar geben. Es sind kleinere, insgesamt fünf bis sechs Potenzialflächen für Windenergieanlagen vorgesehen, deren Eignung letztendlich noch detailliert überprüft werden müssen.
Man kann im Leben nicht alles haben: ein gesundes Ökystem Soonwald und darin industrielle Großanlagen. Beides ist nicht vereinbar.
Gegner eines Windparks in der Größenordnung fürchten auch um die touristischen Werte der Region? Sind diese wirklich bedroht bzw. kann hieraus wirklich eine Wertschöpfung erfolgen? Der Tourismus gerade im Soonwald wirkt immer noch sehr verschlafen.
Kirschner: Tourismus ist leider nur ein Aspekt der fantastischen Potenziale unserer Weltklasse-Landschaft. Meine Sorge ist, dass wir auf die großspurigen Versprechen einer überschätzen Technologie hereinfallen, die später nicht gehalten werden können. Dabei ist doch klar, dass auch erneuerbare Energien - genau wie andere Industrien - bei der Lösung von Problemen wieder neue Probleme schaffen. Wer da nicht genau hinschaut, ist naiv oder gierig. Anstatt unsere regionalen Werte zu opfern, sollten wir weiter vom Lande ein Biosphärenreservat fordern, das Wirtschaftsförderung im Einklang mit der Natur kontrolliert vorantreibt.
Boxler: Energieparks und Tourismus passen gut zusammen. Für die meisten Urlauber stellen Windenergieanlagen sichtbare Zeichen des Klimaschutzes und des ökologischen Fortschritts dar. Windparkbetreiber erhalten zahlreiche Anfragen von Urlaubern, die gern einmal ein Windrad besichtigen würden. In der Nähe einiger Windparks und Testfelder gibt es deshalb Informationspfade und Rundfahrten. Durch das hohe Interesse an den Erneuerbaren gibt es inzwischen auch Reiseführer mit Fokus auf die klimafreundlichen Energielieferanten.
Auch im Blick auf benachbarte Regionen, die mehr Erfahrung mit Windrädern haben: Glauben Sie, dass die Bürger ausreichend über das Projekt informiert sind und die öffentliche Debatte dem Ausmaß des Projektes gerecht wird?
Kirschner: Eindeutig: Nein. Ich habe mit vielen gesprochen. Die Menschen in unserer Region stehen unter dem Eindruck, dass sie nicht mehr viel ausrichten können, „dass eh alles gelaufen ist”. Doch noch stehen wir ganz am Anfang des Genehmigungsverfahrens. Die Initiative Soonwald e. V. hat dazu eine Petition auf den Weg gebracht, die man unter www.soonwald.de unterzeichnen kann. Es gibt viele Möglichkeiten sich für eine nachhaltige Zukunft für unsere unverwechselbare Heimat zu engagieren. Packen wir es beherzt an!
Boxler: In unserer Verbandsgemeinde wird diese Debatte ja schon seit mehreren Jahren geführt. Aktuell wird in der Verbandsgemeinde Rüdesheim für den Flächennutzungsplan ein neuer Teilplan Windenergie erstellt, in dem die Potenzialflächen ausführlich vorgestellt werden. Daran anschließend findet eine Bürgerbeteiligung statt. Unserer Bürgerinnen und Bürger und alle, die es sonst betrifft, werden dazu aufgerufen, sich einzubringen. Auch im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren der einzelnen Anlagen können sich die Bürgerinnen einbringen.