
Aufgerissene Straßen, keine Durchfahrt: Seit Monaten leidet Gau-Bickelheim unter einer Großbaustelle – wohl noch bis Sommer. Unter den Geschäftsleuten stauen sich Wut und Angst.
GAU-BICKELHEIM. In Gau-Bickelheim, das schimpfen sie hier, fühle sich einer wie Gott. Er bestimme, ohne Rücksicht auf das Schicksal Einzelner. Über dem schmucken Weindorf hängt an diesem Morgen eine dicke Wolkendecke, als Bernd Bornheimer-Schwalbach, 49, sagt, was er denkt: „Man weiß nicht, ob’s dich überrollt oder ob du wieder aufstehen kannst.” Zwölf Worte mit Wucht. Ehefrau Maren nickt, es sei „eine Katastrophe”, meint sie. Ein Seufzen. Ohnmächtige Wut.
Bornheimer-Schwalbach, grüne Arbeitshosen, kariertes Hemd, lehnt am Türrahmen seines Hofladens, der „Schweinothek”. Hier ist alles Bio. Das Gemüse, das Fleisch der eigenen Bentheim-Wutzen, Nudeln, Dinkelbrot, Konserven im Holzregal. Deshalb kämen die Leute ja. Hinter dem Chef breitet sich der gepflasterte Innenhof aus, ein Winzer-Idyll vor einer Scheune, drapiert mit Bäumchen und Gartenmöbeln. Alles gut – wäre da nicht diese Baustelle, 80 Meter weiter. Adressat von Bornheimer-Schwalbachs Frust: der LBM. Im Auftrag des Landes reißt er im Dorf die B420 auf und saniert jene Straße, die Gau-Bickelheim einmal teilt. Gott, den spiele man hier, sagt der Landwirt. „Weil wir denen egal sind. Man hätte mit uns reden müssen.” Doch an Information mangele es, am Willen, erträgliche Lösungen zu suchen.
Lautes Piepen. Als Maren, seine Frau, die Rechnung in die Kasse tippt, verfällt der Kunde vor ihr in einen Flüsterton. „Ich wäre ja öfter hier. Aber reinzufahren, das macht keinen Spaß.” Eine Aussage, das ganze Problem. Zwar gelangt man beiderseits ins Dorf – die Durchfahrt aber ist gesperrt. So ist die Situation, seit Herbst 2021. Nun säumen die B420 im Ort jedoch sechs Geschäfte, dazu eine Handvoll Winzer und Wirtshäuser. Ansässige Stammkunden, sagen hier alle, kauften weiter ein. Nicht aber die, die auf der Durchreise halten, eigens anfahren. Für die Inhaberkonten bedeutet das, so wird an den Theken und auf den Höfen vorgerechnet: Umsatzeinbußen von 40 bis 80 Prozent. Wer hält das durch?
Groll richtet sich nicht gegen Gemeinde
Menschen, abgeschreckt von der Baustelle, am Abend weniger in der Kasse, dabei steigende Strom- und Gaspreise. Die Bornheimer-Schwalbachs mussten eine Angestellte bereits entlassen, ihre Gastro lahmlegen, zurückschrauben. Im Ortskern kein Einzelfall. Was geschieht da gerade in einer Gemeinde, die eigentlich intakt funktioniert, alles hat, was sie braucht – in der Betriebe aber aufstöhnen unter den Folgen einer Straßensperrung, sogar um ihre Existenz fürchten? Vorab: Kaum einer hegt einen Groll gegenüber der lokalen Politik.
Erst zwei Jahre Corona, jetzt das. So was bedroht Existenzen. Wir haben jahrelang gedrängelt, dass das gemacht wird. So wollten wir das aber absolut nicht.
Jürgen Vollmer, schwarzer Schnurrbart, rahmenlose Brille, steht an der B420 auf nassem Schotter. Er trägt Funktionsjacke und Turnschuhe, in der Hand hält er ein schwarzes Notizbuch. Am Morgen erst, erzählt der Ortsbürgermeister, war hier die letzte Begehung. Über der aufgerissenen Straße liegt jetzt das brachiale Dröhnen einer Rüttelplatte, auf einem Radlader blinkt die Warnleuchte. Arbeiter mit Schaufeln, Berge von dreckigem Geröll, Regenpfützen, durchmischt mit Schlamm. Es riecht nach Erde und Abgasen. „Chaussee”, so nennen sie die Durchfahrt hier. Wenn man Vollmer fragt, was diese Baustelle im Dorf anrichte, dann seufzt er. „Die Geschäfte leiden immens. Erst zwei Jahre Corona, jetzt das. So was bedroht Existenzen”, meint er, und: „Wir haben jahrelang gedrängelt, dass das gemacht wird. So wollten wir das aber absolut nicht.”
1800 Meter der B420 werden aufgebrochen, erneuert, hübsch angelegt. Im August wechselten die Arbeiten in den Abschnitt zwei, Dorfkern – nachdem die Straße seit Februar zwischen Sutter-Kreisel und Aral saniert worden war. Der LBM plant, im Frühjahr den dritten Teil anzugehen, von der Kirche bis zum östlichen Ausgang. „Mit der endgültigen Fertigstellung wäre dann im Juli 2023 zu rechnen”, hält Bernhard Knoop, Leiter der LBM-Stelle in Worms, am ursprünglichen Zeitplan fest. „Der Fahrbahnzustand war auf ganzer Länge durch Unebenheiten und Risse geprägt.” Schäden von über 10.000 Autos und Lastern am Tag, eine Buckelpiste, alt und ruiniert. Vergangenheit.
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Es ist ja wirklich auch nicht alles schlecht hier. Der frische Asphalt, neu angelegte Wege, eine Querung für Fußgänger – wo ausgebaut ist, waltet nun mehr Sicherheit. Vor den Tempo-Sündern. „Das war schon eine Rennstrecke”, weiß Vollmer, „hier ist es ja kerzengerade.” Man ist sich einig in Gau-Bickelheim, die Sanierung war nötig. Nur was meint der Bürgermeister mit seiner Kritik, er und der Rat hätten eine andere Lösung herbeigesehnt? Genau das: Aufgerissen werden beide Spuren gleichzeitig, deshalb ist gesperrt. „Wir aber wollten einen einseitigen Ausbau”, sagt Vollmer. Für die Bürger, für die Läden. Autos wären weiter durchgerollt, bares Geld, fester Umsatz. Sicherheitsvorschriften jedoch blockierten den Plan, von „beengten Platzverhältnissen” schreibt der LBM. Das schafft Ärger.
Die Baustelle vor der Tür – genau in der Saison
Ein Blumenladen im Osten des Dorfes, Blüten wehen im Wind, die Sonne taucht den benachbarten Friedhof in goldenes Licht. Marcus Berres, 55, streift sich die Handschuhe ab. Hinter ihm, zwischen Gerbera, Lilien und Eukalyptus, bindet eine Kollegin Sträuße, als der Gärtnermeister losstürmt. Vor die Tür – an die B420. Noch liegt die Anfahrt frei, im Februar erst rückt die Baustelle vor das Geschäft. Man ahnt das Debakel. Berres, ein stämmiger Mann mit wallendem Haar, poltert: „80 Prozent des Umsatzes erzielen wir in der Saison bis Juni. Das ist ein hartes Stück.” Erst Valentinstag, dann Ostern, später Muttertag, man versteht schon.
Und gerade dann, sagt Berres auf dem Gehweg, reißen sie ihm den Asphalt vor der Nase herunter. Nur über eine Umleitung landeten die Kunden auf der Rückseite der Gärtnerei. Schrecke doch ab! Dabei liege eine Notlösung nahe: die Zufahrt über den Friedhofsparkplatz. „Da wird keine Rücksicht genommen. Über so etwas muss man reden”, hadert Berres. Hier, an einer von Rheinhessens Hauptstraßen, lebe man eben auch von Spontankäufen. Die aber gebe es kaum mehr, durch die monatelange Sperrung. Was bleibt, sei der treue Kundenstamm.
Kunden aus dem Nachbarort halten sich zurück. Wenn es so weitergeht, kann ich zuschließen. Dann werde ich von den Kosten aufgefressen.
Man erwischt Melanie Pfennig, 47, bei der Abfahrt. Sorry, schnelle Nachfrage – Thema Dauerbaustelle. Ein Wort, das Gefühle provoziert. In Rufweite des Blumenladens führen die Pfennigs ein Weingut, nebenbei betreiben sie eine Gaststube. Mittlerweile haben sie die geschlossen. Minus 80 Prozent auf der Abrechnung. Jetzt steht Pfennig in ihrem pittoresken Hof, umgeben von Zierpflanzen, und sagt: „Wir wissen überhaupt nicht, ob wir nochmal aufmachen. Die Menschen haben keine Lust darauf, über Umwege uns zu finden.”
Früher, da kamen die Gäste aus Mainz, Wiesbaden, Frankfurt – erst Essen, dann ein Kistchen Wein für den Keller. Mit dem einen verschwand das andere. Pfennig sagt, sie seien „nicht eingebunden” worden, es staut sich der Ärger. Wie bei Egon Wolf, 65, dem Chef des kleinen SB-Ladens oben. Hinten im Gang stellt er sich vor die aufgereihten Gläser mit Instant-Kaffee und meint: „Kunden aus dem Nachbarort halten sich zurück. Wenn es so weitergeht, kann ich zuschließen. Dann werde ich von den Kosten aufgefressen.” Manchmal hört man an diesem Vormittag auch Sätze, die besser ungedruckt bleiben. Egal, wo. Längst müssen sie rechnen in Gau-Bickelheim: Wie viele Monate halten wir noch durch, in dieser Sackgasse?
40 Prozent der Döner-Bestellungen fielen weg
Zu den Tischen der Gebrüder Serialtun führt eine provisorische Treppe. Ihnen hat der LBM die Baustelle jetzt direkt vor die Scheiben gesetzt, kein Auto kann mehr vorfahren. Planierter Schotter, Dreck, kein Bürgersteig – der Istanbul-Döner, abgeschnitten im eigenen Dorf. Mehmet, einer der Brüder, hockt auf einer Bank, vor sich Paprika und Käse, dahinter brutzelt es im Pizzaofen. Sieben Euro kostet der fleischbefüllte Fladen mittlerweile. Als die Bagger losrollten, brachen 40 Prozent der Bestellungen weg. „Die Leute wollen nicht herlaufen”, sagt Serialtun, „aber was bringt es mir, zu Hause zu bleiben? Da würde ich mehr Geld verlieren, und ich will arbeiten.”
Dann entbrennt eine Diskussion, über die Tische hinweg. Die Straßenfirma sei zu langsam, eh total unterbesetzt, wie kann das sein? In der Hitze des Ladens, verströmt durch den Dönerspieß, klatscht einer zwei Teigscheiben auf die Theke. Lahmacun scharf, ohne Zwiebeln. „Hauptsache, das wird bald fertig”, raunt Serialtun, er meint nicht das Essen.
An einem ausgehobenen Graben, gegenüber der Kirche, wo sich die braune Masse häuft, sagt Bürgermeister Jürgen Vollmer: „Die Geschäftsleute müssen durchhalten. Es gibt leider keinen anderen Weg.” Nächsten Juli wird der LBM Gau-Bickelheim verlassen. „Voraussichtlich”, heißt es.