Historischer Spaziergang – App lädt zur Erkundung der Ingelheimer Stolpersteine
Von Marina Held
Reporterin Rheinhessen Süd
Via Smartphone öffnet sich die Familiengeschichte zum entsprechenden Stolperstein. Archivfoto: Schmidt
( Foto: )
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
INGELHEIM - Vier Meter noch, zeigt mein Bildschirm an. Eigentlich müsste ich gleich am Ziel sein. Mein Blick ist auf den Boden gerichtet, ich drehe mich im Kreis, schaue mich um. Ein paar Passanten beäugen mich skeptisch, fragen, ob sie mir helfen können. Danke, aber ich muss meinen Weg alleine finden. Ich kneife die Augen zusammen: Irgendetwas blitzt auf der anderen Straßenseite verdächtig. Ich husche hinüber, dann sehe ich die goldfarbenen Steine, die den Beginn meiner Tour markieren. Heute bewege ich mich auf virtuellen Pfaden, teste den Stolperstein-Guide für Smartphones.
Auf den Spuren der Familie Nussbaum
Zurück in die Mainzer Straße: Zugegeben, die quadratischen Messingtafeln begegnen mir im Alltag recht häufig. Sie zieren den Boden vor Türen, Toren und Hofeinfahrten. Viele habe ich schon überflogen – und über einen Stein „gestolpert“ bin ich im wahrsten Sinne des Wortes auch schon. Eingehend damit beschäftigt habe ich mich aber noch nicht. Die Steine vor der Hausnummer 78 dokumentieren die Schicksale von Gustav, Berta und Lotte Nussbaum – einer Ingelheimer Familie, die in der NS-Zeit deportiert wurde. Um die Gravuren besser lesen zu können, gehe ich in die Hocke: „Gustav Nussbaum, Jahrgang 1874, deportiert 1942 nach Theresienstadt, überlebt“, „Berta Nussbaum, Jahrgang 1879, deportiert 1942 nach Theresienstadt, überlebt“, „Lotte Nussbaum, geboren 1920, deportiert 1942 nach Theresienstadt, ermordet in Auschwitz“. Mit den Fingern fahre ich die Gravuren ab. Wenn ich mir vorstelle, dass hinter jeder der Messingtafeln ein Einzelschicksal steht, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.
Wie in vielen deutschen Städten sind auch in Ingelheim zahlreiche quadratische Messingtafeln in Gehwege eingelassen; meistens vor den letzten frei gewählten Wohnorten der Opfer. Sie sind nicht nur Bestandteil unserer Erinnerungskultur, sondern auch Teil eines dezentralen Mahnmals. Was die App betrifft, war ich zunächst ein wenig skeptisch, konnte mir nicht vorstellen, dass sich historisch Bedeutsames mit Virtuellem verbinden lässt. Trotzdem habe ich sie auf meinem Smartphone installiert. Bisher lässt sich sagen: Mission geglückt, Standort gefunden. Eine rote Linie weist mir den Weg, goldene Quadrate markieren die Zielpunkte. So weit, so gut. Und nun? Vorsichtig tippe ich auf die Namen, die auf dem Bildschirm erscheinen. Ein Fenster öffnet sich. Ich vertiefe mich in den Text und erfahre, dass das Ehepaar Nussbaum nach dem Krieg Gustav Nussbaums überlebende Kinder aus erster Ehe traf. Lissy und Oskar hatten es über einige Umwege nach Paris geschafft; und so entschieden sich auch Gustav und Berta, ihren Lebensabend in Frankreich zu verbringen. Nach Ingelheim kehrten sie nie zurück.
DIE APP
Die App fürs Smartphone ist sowohl für das iPhone als auch Android-Betriebssysteme erhältlich. Downloaden kann man den interaktiven Guide via PC über die Homepage des Anbieters oder direkt über den App-Store. Nicht nur Ingelheim ist hier zu finden, auch Stolpersteine in anderen deutschen Städten sind hier verzeichnet.
Mein Interesse ist geweckt: Schnell mache ich mich auf zum nächsten Stolperstein. Und zum übernächsten. Über einen kleinen Umweg – die Karte ist nicht genordet und kann sich auch einmal unbemerkt drehen – führt mein Weg schließlich in die Bahnhofstraße. Dort erwartet mich eine kleine Überraschung. Neben der Baustelle vor Hausnummer 79 steht der Bildschirm auf „null Meter“. Merkwürdig, hier ist weit und breit kein Stein. Wie ein Tiger im Käfig streife ich am Bauzaun entlang; mal zeigt die App sechs Meter an, dann neun, dann vier. Plötzlich knarrt auf der anderen Straßenseite ein Hoftor. „Die Steine wurden übergangshalber entfernt“, erklärt Gertie Weidenbach. Sie zeigt mir die Stelle, an der noch vor Kurzem zwei Messingtafeln ins Pflaster eingelassen waren. Die Ingelheimerin kennt ihre Stolpersteine – und nach meinem Spaziergang bin ich nun auch ganz anders für die Gedenktafeln sensibilisiert.