Ob Web-Design oder Whiskyabend – 66000 Stunden hat die VHS Bingen im vergangenen Jahr abgehalten. Weshalb die Einrichtung im kleinen Rheinstädtchen so erfolgreich ist.
Von Christine Tscherner
Das Team auf der VHS-Treppe am Freidhof (v.l.): Nina Winckler, René Nohr und Petra Fleischmann.
(Foto: Christine Tscherner)
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BINGEN - Pilotprojekte? Dafür sind wir immer offen.“ René Nohr, Leiter der Volkshochschule, gibt jeder Kursidee aus Prinzip drei Chancen. Egal ob berufliche Bildung, Sprachkurs oder Kreatives. Der VHS-Geschäftsführer lässt also mit den Füßen abstimmen. Das hält die alte Bildungseinrichtung ganz nah am Markt und extrem flexibel. Wer beim Schlagwort VHS bloß an den wöchentlichen Abendkurs Urlaubsspanisch denkt, der hat lange kein Programm mehr durchgeblättert. Die Bandbreite reicht von Web-Design über Whiskyabend bis Lernzentrum und Literaturschiff, von Töpfern, Türkisch und Twitter.
„Spaßeshalber haben wir an einem Tag mit Ministerbesuch einmal die Gesamtzahl der Tagesbesucher zusammengezählt.“ Nohr lässt schätzen. Keiner käme auf 644 Menschen an einem gewöhnlichen November-Wochentag. So viele passen selbst im Stundenwechsel nie in die Unterrichtsräume am Freidhof. Stimmt. Denn im ehemaligen Racke-Gebäude an der Gaustraße, dem Haferkasten oder dem Ex-Arbeitsamt verteilen sich die Kursorte über das Stadtgebiet.
66 000 Stunden pro Jahr in 238 Veranstaltungen – das ist nicht bloß für ein kleines Rheinstädtchen viel. Die Kurve der Kursstunden geht seit wenigen Jahren richtig durch die Decke. „Knapp die Hälfte machen Deutsch- und Integrationskurse aus“, sagt Nohr, und zwar 31 000 Kursstunden von den insgesamt 66 000 (in der Statistik 2017). Der Bund finanziert, die Kurse sind proppenvoll. Und beileibe nicht nur Flüchtlinge, die aus dem Binger Umland kommen, besuchen sie. „Wir sind die einzige VHS, die sich 16 fest angestellte Deutschlehrer leistet“, sagt Geschäftsführer Nohr. Honorarkräfte sind anderswo die Regel.
Lehrer vermittelt viel mehr als nur Sprachkenntnisse
Der Vorstand der VHS machte den Weg frei, sah die Notwendigkeit von Sprache zur Integration. Der Mut lohnte. Dass sich ein recht profitables Feld aus den Migrantenkursen entwickelte, das war zum Start nicht abzusehen. Da rang jeder Deutschkurs noch um Fördertöpfe bei unklarer Lage und hohem Risiko der Vorfinanzierung. „Wir leben von unserem guten Ruf und den tollen Mitarbeitern gerade bei den Integrationskursen“, sagt Petra Fleischmann, Leiterin des Lernzentrums. Denn wer sich als Lehrer dort engagiert, vermittelt viel mehr als bloß Sprachkenntnisse. 2018 sehen Fleischmann und Nohr in der Rückschau noch stark geprägt von Integration, Sprach- und Begleitkursen.
Standen in den 60er und 70er Jahren Theater, Konzerte und Kultur im Fokus oder in den 80ern und 90ern die berufliche Bildung, sind seit 2010 Schulabschlüsse und berufliche Qualifikation für Zugewanderte sowie Einbürgerungstests das mit Abstand wichtigste Feld. Was in Zukunft mehr Platz einnehmen wird? Die Digitalisierung. „Der Weiterbildungsbedarf wird dort extrem steigen“, sind sich Fleischmann und Nohr einig. Firmen nutzen seit Jahren das Know-how der Binger Bildungsstätte für die Schulung ihrer Angestellten. Werbung braucht es dafür nicht. Die speziell auf Kundenwünsche zugeschnittenen Kurse gelten als Gewinnbringer. Die Palette reicht vom Französischkurs wegen der Fusion des Betriebs mit dem Konzern aus dem Nachbarland bis zur gezielt angepassten Computer-Weiterbildung für die Beraterbranche.
„Meist wächst aus einem zarten Pflänzchen eine gestandene Kooperation“, sagt Nohr mit Blick auf die Technische Hochschule. Ein Paradebeispiel. Für Binger Studenten, die Auslandspraktika anstreben, bietet die VHS seit fünf Jahren Sprachkurse als Vorbereitung an. Neun Sprachen von Französisch bis Arabisch stehen zur Auswahl. Das Besondere: Blended Learning. Studenten nutzen zwischen Präsenzphasen eine Software zu Hause, um Aussprache, Grammatik und Vokabeln zu büffeln. „Auch da haben wir losgelegt und mit Versuch und Korrektur am Konzept gefeilt“, sagt Nohr. Denn die Studenten wünschten sich aus Disziplingründen wenigstens alle 14 Tage den Lehrer live im Raum, statt fast ausschließlich über den Bildschirm zu lernen. Auf knapp 90 Teilnehmer ist das Studenten-Programm gewachsen. „Dank dieser Kooperation sind wir Vorreiter in Rheinland-Pfalz im Online-Sprachenlernen“, sagt Nohr.
Auch vor Kooperationen mit Gefängnissen hat das Haus keine Scheu. Seit 2016 unterrichten Binger VHS-Lehrer in der Justizvollzugsanstalt Rohrbach. Inzwischen zählt das Programm rund 100 Teilnehmer.
Für Bildungsfreistellungen schlagen Angestellte aus ganz Deutschland auf der Binger VHS-Seite nach. Ob die Weiterbildungswoche an der Förde, im Bayerischen Wald oder am Mittelrhein stattfindet? Inhalte entscheiden. Bingen scheint sich als gute Adresse etabliert zu haben. „Heute ködern Chefs mit Weiterbildung, das war vor wenigen Jahren noch anders“, sagt Nohr. Fachkräftemangel wirkt sich als Plus für die Bildungsstätte aus. Übrigens auch als touristisches Plus: Kurs-Teilnehmer aus Schleswig-Holstein schlafen nur wenige Schritte vom Lernort entfernt im Hotel Wirth.
Der Trend geht zum Kompaktlernen. „Statt zwölf Wochen lang eine Abendstunde wollen Teilnehmer heute lieber eine Woche Lernen am Stück“, sagt Petra Fleischmann. Vor zehn Jahren noch war die VHS ein echter Wackelkandidat, der um Mitgliederbeiträge fürs finanzielle Überleben rang. Inzwischen schwimmt das Haus am Freidhof als wahres Dickschiff im Bildungsmeer. „Angekommen“ als Buch- und Ausstellungsprojekt rechnet Nohr zu den Programmpunkten, die nie ausfinanziert sein werden. Ein Kurs sollte sich prinzipiell aus der Teilnehmergebühr selbst tragen. Aber Querfinanzierung macht auch einen Alphabetisierungskurs mit fünf Teilnehmen noch möglich. Die VHS ist raus aus der Schuldenkrise, dem tiefen Jammertal kurz nach der Jahrtausendwende. Immer neue Rekorde bei der Kurs-, Stunden- und Teilnehmerzahl stehen in der Bilanz. Immer mehr vom Jahresumsatz ist selbst erwirtschaftet.
Inhaltlich setzt das Haus auf Zusammenarbeit. Auch personell. Nina Winckler übernahm als neue Leiterin der Musikschule im vergangenen Jahr zusätzlich die VHS-Sparten Kultur und Gesellschaft. Was die Musikschulzukunft bringt? „Mehr kleine Häppchen“, sagt Winckler. Zehn Einsteiger-Stunden Gitarre für Lagerfeuer-Lieder können Lust machen auf mehr. Der Gitarrenfreund muss sich nicht auf ein ganzes Semester festlegen. Die Musikschule erschließt die Welt der Klänge von Blockflöte bis Waldhorn, von Schlagzeug bis Gesang. „Klar wird es die Vorbereitung auf ein Musikstudium weiter geben, aber wir brauchen die niedrige Schwelle.“ Neu ist die Kooperation mit dem Kindergarten Annaberg. „Um die vielen Kinder aus Migrationsfamilien zu erreichen, brauchen wir speziell zugeschnittene Inhalte“, sagt Winckler. Enge Zusammenarbeit ist dafür in der Kleinstadt ein Vorteil, die Akteure kennen sich. Die VHS setzt auf diese Stärke.
Was nicht mehr geht? „Bildungsreisen werden immer weniger“, vergleicht Nohr. Die klassische Bildungsreise nach Rom oder Griechenland funktioniert auch selbst organisiert leicht mit der Smartphone-App als Reiseleiter. Völlig unvorstellbar war das 1946, als die VHS Bingen gegründet wurde. Sie ist immerhin die älteste öffentliche Weiterbildungseinrichtung im Landkreis. Die Musikschule Bingen kam im Jahr 1973 hinzu. Seit 2003 sind beide Einrichtungen in einem eingetragenen Verein zusammengeschlossen. Für beide stehen Sanierungsarbeiten an, der Umbau in diesem Jahr für die Musikschule in Bingerbrück und die Sanierung des putzbröckelnden Freidhof-Hauses.
Zweimal pro Jahr erscheint das gedruckte Programm, inzwischen mehr Buch als Heft. Reinschauen lohnt, gern auch im Netz.