Gute Noten für Binger Innenstadt lösen Debatte aus
In einer Studie hat die Binger Kundschaft durchweg gute Noten für die Innenstadt vergeben. Nun ist eine Debatte entstanden, ob die Bewertungen wirklich aussagekräftig sind.
Von Erich Michael Lang
Reporter Rheinhessen
Foto: Schwarze Blanke
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BINGEN - Das Glücksgefühl währte nur kurz. Zu den 116 Innenstädten, die vom Kölner IFH-Institut unter die Lupe genommen wurden, zählte auch Bingen. 402 Gäste wurden befragt und was die Stadtratsfraktionen durchweg überraschte: Die Kundschaft verteilte gute Noten, bessere zum Teil sogar als im Durchschnitt mit den der Größe nach vergleichbaren Städten. Nach dem Schulnotensystem gab es so für die Attraktivität der Innenstadt eine 2,7. Das Einzelhandelsangebot erhielt ebenso eine 2,7 und die Gastronomie konnte eine 2,4 einheimsen. Die Eisdielen und Cafés holten dabei sogar eine 1,9. Im Grunde bewegt sich alles im guten bis knapp vor den befriedigenden Bereich. Einzige Ausnahme: Parkmöglichkeiten mit 3,1. Das wiederum verwundert keinen, der noch die zurückliegenden Parkraumdebatten im Ohr hat.
Und was ist mit denen, die erst gar nicht kommen?
Aber irgendwie war das bereits bei der Erstpräsentation im Planungsausschuss, als zusammenfassend die Ergebnisse vorgestellt wurden, alles zu schön, um wahr zu sein. Zweifel rührten sich. Nicht von der Hand zu weisen war die Bemerkung, natürlich geben diejenigen, die in der Innenstadt zum Einkaufen unterwegs sind, tendenziell gute Noten; sonst würden sie ja nicht kommen. Was aber ist mit denen, die nicht kommen? Auch wurde die Frage nach dem Anteil Jugendlicher gestellt. Das lässt sich zumindest beim tieferen Blick in die Zahlenkolonnen sagen. Von den Befragten waren 6,8 Prozent bis 20 Jahre, 7,8 Prozent 21 bis 25 Jahre, 19,2 Prozent 26 bis 40 Jahre, 13,2 Prozent 41 bis 50 Jahre, 24,2 Prozent 51 bis 65 Jahre und schließlich 28,8 Prozent über 65 Jahre. Aus dieser Gemengelage ergab sich bereits die Vermutung, dass die Aussagen der Studie zur Online-Affinität der Binger Kundschaft mit Vorsicht zu genießen sind. Demnach gaben 58,1 Prozent an, gar nicht im Internet einzukaufen, 39,1 Prozent sagten, sie kauften zwar online ein, was aber ihrem Einkauf in der Binger Innenstadt keinen Abbruch tue; lediglich 2,8 Prozent meinten, sie kauften zunehmend online ein und besuchten die Innenstadt deshalb auch seltener.
Da ist dann die Frage, wie sich die Prozente verteilt hätten, wäre der Anteil Jugendlicher größer gewesen, beziehungsweise welche Werte ermittelt würden, hätte das Institut jene im Umkreis von Bingen interviewt, die erst gar nicht mehr den Weg in die Stadt finden.
Interessanterweise finden sich einleitend zur Studie auch deutliche Hinweise, dass das Online-Geschäft nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte, was die aktuellen Binger Umfrageergebnisse ja nahelegen könnten. So hat der Online-Handel 2018 einen Anteil von bereits 10 Prozent am Gesamthandelsumsatz von geschätzt 520 Milliarden Euro. Anders ausgedrückt: Heute schon wandert jeder zehnte Euro, der im Handel ausgegeben wird, sozusagen ins Internet. Werden Lebensmittel oder Körperpflege herausgerechnet, beträgt der Online-Anteil sogar schon 14 Prozent, so die Studie. Da der gesamte Markt nur begrenzt wachse, könne von einer deutlichen Verdrängung zulasten des stationären Einzelhandels die Rede sein. Bezeichnenderweise geht die Frequenz in den Innenstädten zurück, je mehr der Online-Handel wächst. „Der traditionelle Handelskäufer, der nur stationär einkauft, stirbt langfristig aus. Diese Entwicklung stellt den traditionellen Handel vor große Herausforderungen“, heißt es.
Das will so gar nicht passen zum Sonnenschein, den die Umfrage verbreitet. Wenngleich tatsächlich auf die Kundschaft Verlass ist, die nach Bingen kommt. So wurde samstags ermittelt, dass 79,3 Prozent des Einkaufs wegen die Innenstadt aufgesucht haben; im Bundesschnitt mit vergleichbaren Städten sind das nur 61,8 Prozent.
Es geht auch um Leerstände und den Branchenmix
Aber solche Werte sind dennoch kein Ruhekissen. Nur wenige Tage nach Bekanntwerden der Umfrage setzte die politische Debatte um die Innenstadt mit Nachdruck ein. Dabei ist es nicht nur der Altersdurchschnitt der Besucher, der interessiert. Auch geht es nicht nur um das Online-Kaufverhalten. Auf dem Tisch sind nun auch die Themen lückenhafter Branchenmix und Leerstände, Defizite, mit denen sich zumindest nach Lesart beispielsweise der Grünen die Stadt und der Einzelhandel selbst das Leben auf die Dauer schwer machen könnten. Die Umfrage gibt bei der Zufriedenheit mit dem Angebot ja eine 2,7 an. Leerstände wiederum werden gar nicht thematisiert, höchstens lässt sich das bei der Bewertung von Gebäuden und Fassaden vermuten. Da bleiben sich aber auch die Umfrageergebnisse treu. Für die Binger Gebäude und Fassaden in der Innenstadt gibt es eine 2,7. Übrigens wird die Sauberkeit genauso bewertet und auch die Sicherheit. Plätze und Grün sahnen sogar eine 2,6 ab.
Es bleibt dabei: Dieser Studie lässt sich für die Innenstadt nichts Schlimmes entnehmen. Aber ist das schlimm? Vielleicht ist die Stimmung ja doch besser als ihr Ruf, wie er gerne in Bingen mit Verdrossenheit verbreitet wird. Oder muss Stadtplanung jetzt vorausschauend handeln, damit Entwicklungen gar nicht erst eintreten, wie sie sich am Horizont beispielsweise durch das wachsende Online-Geschäft abzuzeichnen beginnen. Aber wer sollte handeln? Die Grünen sehen den Oberbürgermeister in der Pflicht, die FDP mehr den Stadtmarketingverein BUZ und die Werbegemeinschaft. Diese Diskussion um die weitere Entwicklung der Innenstadt hat gerade erst begonnen. Der Planungsausschuss will sich in einer der kommenden Sitzungen die Studie „Vitale Innenstädte“ nochmals vertiefend vorknöpfen und dann auch die Fragen behandeln, die jetzt noch offen erscheinen. Ob es auch Antworten geben wird, muss sich zeigen.