Vor 90 Jahren wurde Büdesheim eingemeindet. Die Bürger haben es in dieser Zeit geschafft, Binger zu werden und zugleich Büdesheimer zu bleiben.
Von Jochen Werner
Zwölf Mitglieder des letzten Büdesheimer Gemeinderates stimmten 1928 für die Eingemeindung.
(Foto: Sammlung Trudel Scheurer)
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BÜDESHEIM - Dass Büdesheim als Stadtteil zu Bingen gehört, ist für alle Zeitgenossen im Jahr 2019 selbstverständlich. Heute gehört beides zusammen, haben beide Kommunen fast die gleiche Einwohnerzahl. Vor einem knappen Jahrhundert war das ganz anders. Die Eingemeindung des damaligen 3200-Seelen-Ortes auf der anderen Seite von Scharlachkopf und Rochusberg am 1. April vor genau 90 Jahren war ein Ergebnis jahrelanger Gedanken und Verhandlungen: Ein Modellfall und keinesfalls ein Aprilscherz. Sie war anders als viele Zusammenlegungen anlässlich von Gebiets- und Verwaltungsreformen in den 1930er oder Ende der 1960er Jahre, nicht zwangsläufig geschehen, sondern erfolgte auf freiwillige Entscheidungen der Vertreter und der Bürger beider Orte.
Der Büdesheimer Bürgermeister August Hermann Mies war bereits im Jahr 1903 dafür eingetreten, Bingen und „seine“ Kommune zu einer Einheit zu verschmelzen. Damals waren gerade die Verhandlungen zum Bau einer elektrischen Bahn zwischen beiden Gemeinden erfolgreich beendet. Damals wurde bereits argumentiert, dass mit dem Zusammenschluss billiges Bauterrain geschaffen und leichter erreichbar würde, weil dem lebhaften Bedürfnis der Menschen nach finanzierbaren Wohnungen wegen der hohen Binger Bodenpreise nicht genügt werden könnte. Ein Brief von Mies an die Binger Stadtoberen ist aktenkundig, nicht jedoch deren Antwort.
Als die Wohnungsnot in Bingen immer größere Ausmaße angenommen hatte, begann die Stadtverwaltung, die zu Anfang des Ersten Weltkrieges Eingemeindungen von Kempten und Büdesheim noch abgelehnt hatte, nun doch aktiv zu werden. Am 29. Dezember 1924 schrieb Bingens Bürgermeister Franz Neff an die Amtskollegen in Büdesheim, Kempten und Gaulsheim, „daß die Frage des Zusammenschlusses der drei Gemeinden mit der Stadt nun schon längere Zeit schwebt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich inzwischen so gestaltet, daß die Frage jetzt ihrer endgültigen Entscheidung entgegengeführt werden muß.“ Kempten und Gaulsheim lehnten ab, Büdesheim war mit seinem Chef Eduard Braden 21 Jahre nach dem ersten eigenen Vorstoß zu Verhandlungen bereit, lud Neff zu einer Gemeinderatssitzung ein.
Zwölf Mitglieder des letzten Büdesheimer Gemeinderates stimmten 1928 für die Eingemeindung. Foto: Sammlung Trudel Scheurer
Das Foto zeigt das Alte Rathaus in Büdesheim. Foto: Sammlung Trudel Scheurer
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Natürlich. Auch vor über 90 Jahren war die Stimmung in der Bevölkerung gespalten. Vier Vertreter aus der bäuerlichen Richtung machten sich damals stark für den Erhalt der Eigenständigkeit Büdesheims, legten in der Konsequenz ihr Ratsmandat nieder. Eine Entscheidung, die sie nach Beschluss der Aufsichtsbehörde allerdings revidieren mussten. Am Widerspruch freilich änderte sich nichts. Es wurde am 3. Juni 1928 gar eine „Volksabstimmung über die Eingemeindung“ anberaumt. Ergebnis: 1034 Bürger entschieden sich für eine Verschmelzung, 852 waren dagegen. Einen Tag später berichtete die Mittelrheinische Volkszeitung (MVZ) von tumultartigen Szenen, die sich in einer Versammlung in der Gaststätte „Traube“ abgespielt und die in Tätlichkeiten auszuarten gedroht hätten.
Auch in Bingen war längst nicht jeder für die Aufnahme der Gemeinde. „Die Zukunft der Stadt liegt nicht hinter dem Rochusberg, sondern die Weiterentwicklungsmöglichkeiten sind in der Richtung Kempten-Gaulsheim zu suchen“, wird ein Verordneter zitiert. Der „Verein Selbständiger Kaufleute Bingens“ sah dagegen vor allem die Chance, die in der Eingemeindung lag, appellierte an die Weitsicht der Stadtherren, die Entwicklung nicht um Jahrzehnte zu behindern und zu verschlafen.
Bereits damals gab es in Büdesheim eine rege Bautätigkeit, weil über die „Elektrische“ gute Verkehrsverbindungen nach Bingen und von da aus in die ganze Republik bestanden. Bereits damals suchten viele Binger Bürger eine Wohnung im „Grünen“, außerhalb des städtischen Treibens und doch nahe genug, um schnell in dieses eintauchen zu können. Sprich: Wirtschaftliche Gründe sprachen für einen Zusammenschluss beider Kommunen. Die Kritiker in der Stadt Bingen hatten Angst, dass allein Straßen und Kanalisation in Büdesheim Unsummen kosten würden. Umgekehrt war mancher Büdesheimer in Furcht, dass mehr Schutzleute und „niemals die Industrie“ in ihren Ort kämen.
Bevor sechs Bürger aus dem prosperierenden ersten Stadtteil Büdesheim am 1. April 1929 in den Stadtrat einziehen konnten, fand im voll besetzten Büdesheimer Rathaussaal eine Sitzung statt, die jeden bekannten Rahmen sprengte. Die MVZ gab am 9. Juni 1928 ein beredtes Zeugnis. Es wird von einer engagierten Debatte berichtet, „die schließlich persönlichen Charakter annahm.“ Für die Eingemeindung nach Bingen stimmten letztendlich zwölf Ratsmitglieder: der Bürgermeister, der Beigeordnete, das Zentrum und die SPD. Dagegen war die Bürgervereinigung mit fünf Stimmen. „Nach der Abstimmung verweigerten die Gemeinderäte der Bürgervereinigung die Unterschrift des Protokolls und verließen den Sitzungssaal“, schrieb der Berichterstatter. Heile Welt hört sich anders an.
Einige Wochen später, am 28. Juli 1928, wurde erneut abgestimmt. Diesmal über den Namen und weitaus friedlicher. „Bingen-Büdesheim“ setzte sich dabei gegen Bingen-Scharlachberg und Bingen-Süd durch. Am 6. Mai 1929 begann das gemeinsame Arbeiten, wurden Lehrer Franz Josef Kraus, Oberschaffner i.R. Vitus Götze (Zentrum), Eisenbahnschlosser Karl Wilhelm Becker, Prokurist Heinrich Trablé (SPD), Landwirt Johann Pertgen und Gutsverwalter Wilhelm Grünewald (Bürgervereinigung) ins Amt im Binger Stadtrat eingeführt und verpflichtet.
Ergebnis: Am 1. April 1929 wurde „Biddesem“ der erste Binger Stadtteil. Über die Eingemeindung selbst wird nichts Aussagekräftiges berichtet. Laut Jürgen Schinke (Byrtze 3 von 2004) wurde sie „anscheinend sang- und klanglos“ vollzogen. Die Büdesheimer haben innerhalb der 90 Jahre das Kunststück geschafft, Binger zu werden, gleichzeitig aber Büdesheimer zu bleiben.