Bingen will "CO2-freie Stadt" werden - doch die Umsetzung ist zäh
Von Erich Michael Lang
Reporter Rheinhessen
Archivfoto: Kurt Honrath
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BINGEN - E
s ist seit Jahren das weithin sichtbare Zeichen der Anstrengungen um eine lokale Energiewende. Für nicht wenige ist es ärgerlicherweise zu weithin sichtbar; womit wir uns bereits mitten im Thema befinden, ohne es auch nur direkt angesprochen zu haben: der Kandrich und seine Windkraftanlagen, die Klimmzüge auf dem Berg und im Tal für eine CO2-freie Stadt, die Spaltung der Disputanten in die Gläubigen und die Ungläubigen. Einstweilen arbeitet die Zeit für die Ungläubigen. Denn die lokale Energiewende steht nach wie vor mehr auf dem Papier, als dass sie in Bingen real gegriffen werden könnte. So wie der Weltklimagipfel in Bonn auch mehr Scherben aufgekehrt als Schönes getöpfert hat.
Hochtrabend sind die Titel der Binger Papiere: "Energetisches Quartierskonzept" oder "Mobilitätskonzept". Zehntausende Euro wurden für Gutachten ausgegeben, die tatsächlichen Fortschritte bei Energiebilanz oder Bausubstanz nehmen sich dagegen bescheiden aus.
Symptomatisch ist das anhaltende und absehbar nicht endende Tauziehen um das ÖPNV-Konzept, als Initialzündung einer neuen Mobilität in der Stadt, die wiederum ihren Teil zur CO2-Freiheit beitragen soll. Monate gehen ins Land, Entscheidungen bleiben aus. Keiner wagt zu sagen, wann es tatsächlich einmal wenigstens eine "Mobilitätsstation" geben wird, wo sich Rad- und Busverkehr vernetzen, von "Carsharing" ganz zu schweigen. Die Gläubigen, die seit Jahren die Monstranz der CO2-freien Stadt vor sich hertragen, schwärmen, die Ungläubigen lächeln müde, weil für sie ein Carsharing etwas für Großstädte ist, nicht aber für das vergleichsweise kleine Bingen. Und außerdem steht alles ja ohnehin nur auf dem Papier. Dafür aber hat Bingen eine Klimaschutzmanagerin.
Es ist genau dieses Bruchstückhafte und Unvollkommene bei vielen Konzeptionen, die Zweifel an einer echten Wende im Energiebereich nähren. Das Zutrauen reicht nicht viel weiter als bis zur nächsten, gut gemeinten Symbolhandlung, immer geeignet für ein Pressebild mit lauter strahlenden Gewinnern. So wie die Stadtwerke ihre Fotovoltaikanlagen betreiben, als lobenswertes Engagement immer gern hervorgehoben, aufs Ganze gerechnet aber ziemlich bedeutungslos.
Schutz des Klimas oder Schutz der Kulturlandschaft
Dazu passt, dass die Stadt just auf dem Heiligen Berg der Energiewende nicht wirklich einen Fuß in die Tür bekommen hat. Die Träume der Stadtwerke von eigenen Anlagen auf dem Kandrich zerstoben, denn zwischenzeitlich hatten sich die Bedenken wegen der Lage im Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal auch bis zur Landesregierung herumgesprochen, der dann schließlich bei der Flächenplanung das kulturlandschaftliche Hemd näher war als der energetische Rock. Bauflächen außerhalb des Kerngebietes gab es nicht mehr, der berühmten Sichtachsen wegen, die für Kritiker der Windenergie im Binger Wald schon jetzt mehr als empfindlich beeinträchtigt sind. An bestehenden Anlagen sind die Stadtwerke zwar beteiligt, aber eine Windernte ganz auf eigene Rechnung gibt es eben nicht. Das ist auch deshalb bitter, weil sich der CO2-Freiheit wegen diese Erträge prima hätten verrechnen lassen, was die Bilanz positiv nach unten gedrückt hätte.
Damit ist auch der Traum geplatzt, wenigstens rechnerisch auf dem Kandrich den erneuerbaren Strom zu erzeugen, der dann unter anderem auch von einem städtischen E-Bus verbraucht wird, was wiederum ein erfreuliches CO2-Nullsummenspiel gewesen wäre. Aber den E-Bus gibt es schließlich ja auch nur auf dem Papier. Der Anschaffungsbeschluss ist jedoch gefasst, jetzt ist Bingen gespannt, was kommt. Die Gläubigen sind verzückt, die Ungläubigen hingegen werten den E-Bus allenfalls als Arabeske im Linienbetrieb, wobei sich die Verlässlichkeit ohnehin erst erweisen müsse. Immerhin wäre Bingen Rheinland-Pfalz-weit die erste Stadt mit einem solchen Gefährt. Vor Jahren, als diese Diskussion in Bingen einsetzte, war das auch noch ein ziemlich exotisches Thema. Inzwischen, durch die Dieselaffäre flott gemacht, erwägen andere Städte, den ganzen Fuhrpark auszutauschen und auf das "E" umzustellen. Aber auch das ist einstweilen nur Theorie, wie so vieles in der Debatte um die Energiewende.
E-Mobilität ist gemessen am Einfluss der Privathaushalte auf alle Berechnungen von Ökobilanzen nur ein Zwerg. Das größte Einsparpotenzial ist nach wie vor beim Wärmeenergiebedarf von Wohnungen und Häusern vorhanden. Alles, was sich hierbei bislang in Bingen bewegte, hat auch nur bestenfalls Modellcharakter. Im Zusammenhang mit dem Neubau der Stadtbibliothek an der Basilikastraße geht die Stadt in Vorlage und will ein Nahwärmenetz installieren, von dem künftig das "Kulturquartier" zwischen VHS, Stefan-George-Haus und dem künftigen Bürgerbüro im Schwarzen Haus bedient wird. Das "energetische Quartierskonzept" hatte mehrere denkbare Zellen für Nahwärme ermittelt. Das "Kulturquartier" galt dabei von Anfang an als die am ehesten umsetzbare Option. Aufwendig wurden für alle Gebäude im südwestlichen Bereich rund um die Burg Daten erhoben. Grundlagen für ein mögliches Nahwärmenetz zu ermitteln, war dabei ein Ziel. Technisch denkbar ist vieles, letztlich aber hängt es immer wieder an der Entscheidung der Eigentümer, die von einem Umdenken überzeugt werden müssen. Und dabei nun, sozusagen an der Basis, haben es die Verantwortlichen von Stadt und Ingenieurbüros mit deutlich mehr Ungläubigen als Gläubigen zu tun. Wobei selbst die Gläubigen verständlicherweise wirtschaftliche Aspekte auch nicht einfach ausblenden mögen. So ist der Umstieg auf ein Nahwärmenetz vor allem dann attraktiv, wenn die eigene Heizungsanlage abgeschrieben ist und absehbar ohnehin ausgetauscht werden muss. Ach, apropos Netze: Die Rekommunalisierung des Stromnetzes, die als Teil der Energiewende-Strategie gilt, hängt auch in der Luft. Es zeichnet sich ein jahrelanger Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang ab.
Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass die Stadt noch lange nicht CO2-frei ist. Die Energiewende in Bingen ist bislang noch nicht einmal eine achtel Drehung.