Bingen wächst - und sieht sich auch für 30 000 Einwohner gerüstet
Von Erich Michael Lang
Reporter Rheinhessen
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BINGEN - B
ingen wächst. Wenngleich der Umfang des Wachstums nicht beim Statistischen Landesamt zu erfahren ist. Dort wird mit den Ergebnissen des Zensus hantiert, der besagt, dass Bingen rund 25 000 Einwohner hat. Zum Leidwesen der Stadtkasse gilt dieser Wert als gesetzt, sodass proportional zu der Einwohnerzahl die Landeszuwendungen mit Hinweis auf den Zensus seit Jahren nicht wachsen. Dieser Clinch wabert im Hintergrund und ist unerfreulich, denn umso erfreulicher sind die Zahlen, die beim Einwohnermeldamt abgerufen werden können. Demnach zählt Bingen inzwischen 27 667 Bürgerinnen und Bürger in seinen Mauern. Oberbürgermeister Thomas Feser zeigt sich bei den Gelegenheiten, da diese Zahlen aufs Tapet kommen, ehrgeizig: "Wir sind auch noch für mehr als 30 000 bereit!"
Wie schon das bisherige Bevölkerungswachstum nahelegt, ist dieses ehrgeizige Ziel keineswegs aus der Luft gegriffen. Denn Bingen kann wachsen, weil es dem Wachstum ein Dach über dem Kopf bietet. Der Stadtrat macht Baugebiete flott oder fasst sie zumindest für die mittelfristige Planung ins Auge. Dabei kommt inzwischen diplomatisch der Proporz zwischen den Stadtteilen zur Anwendung. Dies war mit ein Grund, weshalb die Ratsmehrheit das Bubenstück in Büdesheim nur noch um den zweiten Abschnitt wachsen lassen möchte. Abschnitt drei und vier wurden auch zugunsten von anderen Projekten in den Stadtteilen gekippt. Dieser Rückzieher hat die Stadt weit über 800 000 Euro an Rückzahlungen durch vertragliche Bindungen gekostet, was die Opposition um die SPD in aller Schärfe kritisierte. Ein Hintertürchen gibt es dabei auch noch, denn es besteht in Büdesheim künftig die Option auf eine Bebauung an der Johannisstraße (Grafik).
Jedenfalls erfolgt die Bebauung eines Areals inzwischen zügig. Die Nachfrage nach halbwegs bezahlbarem Baugrund ist groß. Das ist nun inmitten der Rhein-Main-Region auch kein Wunder. Bingen hat bei diesem Poker äußerst starke Karten in der Hand. Neben den vergleichsweise günstigen Preisen ist dies vor allem die exzellente Verkehrsanbindung, umgeben von der A 60 und A 61. In die Metropolregion ist es im Grunde nur ein Katzensprung. Dafür gibt sich Bingen selbst eher ländlich-idyllisch, von Weinbergen und Wald umgrenzt, den Rhein direkt vor der Haustür. Freizeitwert und kulturelle Angebote kommen Schulter an Schulter daher. Für die vergleichsweise kleine Stadt ist einiges los. Und nicht zuletzt das Bildungsangebot bis hin zur TH kann sich ebenfalls sehen lassen. Wer sich hier niederlässt, muss nichts missen; und was vermisst wird, ist eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt.
Der Standort punktet auch bei Unternehmen
Für Unternehmen wiederum führen ähnliche Aspekte zu besonderem Wohlwollen gegenüber dem Standort Bingen. Die IHK stimmt gerne den Hochgesang auf den Wirtschaftsraum an, wo sich Global Player und Mittelständler die Hand reichen, die Exportquote um die 55 Prozent liegt und die Arbeitslosenquote schon am Bereich zur Vollbeschäftigung kratzt. Deshalb ist die Vorstellung auch falsch, von Bingen aus werde wie wild gependelt. Es gibt eine Vielzahl von wohnortnahen Arbeitsplätzen. So greift eins ins andere, weil eben auch Firmen ihren Beschäftigten als Sahnehäubchen obenauf gerne noch ein angenehmes Wohnumfeld bieten.
Dabei geht es auch nicht mal nur um Neubaugebiete. Die drei großen städtebaulichen Entwicklungsprogramme haben sich auch die Nachverdichtung im Zentrum und den Ortskernen auf ihre Fahnen geschrieben. Mit millionenschwerer Förderung sollen die Innenstadt, der Ortskern Büdesheim und demnächst auch Bingerbrück Anschluss an die städtebauliche Moderne finden. Vor allem die Innenstadt hatte dies bitter nötig, und dort sind inzwischen auch schon zahlreiche erfolgreiche Ergebnisse zu sehen. Das Programm "Aktive Stadtzentren" lässt seine Handschrift erkennen, durch modernisierte Ladengeschäfte, sanierte Wohnungen oder zusätzliche, neue Wohnangebote im Penthousebereich. Damit soll der Tendenz der vergangenen Jahrzehnte gegengesteuert werden, als Neubaugebiete im Ring um den Kernbereich Zuzug verzeichneten, Innenstädte und Ortskerne aber mehr und mehr ausbluteten. Nicht zuletzt wegen unattraktiv gewordener Bausubstanz. Dabei ist inzwischen auch das Stichwort "Barrierefreiheit" von Gewicht, um die Nachfrage durch den demografischen Wandel befriedigen zu können. Viele ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen zieht es der Versorgungslage, aber auch der kulturellen Angebote wegen wieder mehr und mehr in die Innenstädte. Passgenaue Wohnformen bis hin zum Betreuten Wohnen müssen gefunden werden. Das steckt in Bingen noch in den Anfängen, zumal die Stadt generell wegen ihrer Topografie Probleme mit der Barrierefreiheit hat.
Mobilität generell wird zudem eine Zukunftsaufgabe sein. Die kluge Vernetzung der Verkehrsmittel, ein attraktives ÖPNV-Angebot. Städte, die dabei die Nase vorn haben, haben sie auch beim Zuzug vorn. Bingen tut sich auf diesem Feld bislang politisch ebenfalls schwer. Die vor allem mit grüner Tinte geschriebenen Grundsätze wollen nicht so recht in den Farben der anderen Parteien gegengezeichnet werden. 2018 soll hier eine Lösung bringen. Skepsis ist aber angesagt, weil sich alle Diskussionen zu diesem Thema bislang quälend gestalteten. Aber attraktive Mobilitätsangebote müssen dazugehören, wenn Bingen einmal mehr als 30 000 Seelen zählen will.