Mieterin Elke Varnhagen ist entsetzt. In einem Jahr muss sie ihre Wohnung verlassen, weil das Haus abgerissen werden soll. Nachbar Thomas Höfling-Conradi unterstützt seine Freunde zwei Häuser weiter, wo er kann.
(Foto: BilderKartell/Carsten Selak)
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ALZEY - Es traf sie wie ein Schlag, als sie den Briefumschlag öffnete, erzählt Elke Varnhagen. Nach 23 Jahren, die sie und ihr Ehemann nun schon in der Wohnung in der Weinheimer Landstraße 76 leben, erhielten sie plötzlich ein Kündigungsschreiben – im Auftrag des Hauseigentümers, aufgesetzt von einer Alzeyer Anwaltskanzlei. Auch die anderen Mietparteien, die in dem Mehrfamilienhaus leben, müssen bis zum 30. November 2019 ihre Wohnungen verlassen.
Der Grund: Für den Eigentümer würde sich laut Kündigungsschreiben eine Sanierung des in den 50er-Jahren erbauten Gebäudes finanziell nicht lohnen. Daher soll das Haus abgerissen werden, um einem größeren Neubau mit acht bis zehn Wohnungen Platz zu machen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Mieter vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Von dem Verkauf des Gebäudes an den jetzigen Eigentümer haben sie im August, erst zwei Monate nach Vertragsende erfahren – rein zufällig, als der neue Eigentümer plötzlich im Garten stand. „Keine Sorge, ihr könnt alle bleiben“, hatte die frühere Vermieterin vor drei Monaten noch versichert. Von wegen.
„Ich kann mir eine teurere Miete nicht leisten“
Für Elke und Dieter Varnhagen ist die Kündigung eine Katastrophe. Die beiden 71-Jährigen haben nur eine kleine Rente, zahlen derzeit noch eine Miete, wie es sie in Alzey kaum noch gibt. „Ich kann mir eine teurere Miete nicht leisten“, sagt Elke Varnhagen. Auch ein Umzug ist für sie in ihrem Alter körperlich eine Herausforderung.
Große Sorgen macht sie sich daher auch um ihre Nachbarn ein Stockwerk höher. Ein Ehepaar, beide um die 80 Jahre alt, mit einer sehr geringen Rente, und ein weiteres Paar, beide Frührentner. Jetzt kann Elke Varnhagen nachts nicht mehr schlafen. „Das stürzt uns richtig ins Unglück“, sagt die 71-Jährige.
Die Tür geöffnet für Abriss und Neubau in der Weinheimer Landstraße hat der Bauausschuss am vergangenen Donnerstag – und das, obwohl das Projekt gar nicht auf der Tagesordnung stand. Stein des Anstoßes war der Bauantrag eines Alzeyers, der auf einer Baulücke Am Roten Tor ein Mehrfamilienhaus errichten will. Der dort seit 1962 bestehende Bebauungsplan „Zwischen Weinheimer Straße und Selz“ lässt jedoch nur eine maximale Bebauung von 25 Prozent der Grundstücksfläche zu, der Bauherr möchte jedoch 33 Prozent bebauen. Das überschreitet die Festlegungen des B-Plans jedoch deutlich, weshalb Bauverwaltung und Bürgermeister das Ansinnen ebenso deutlich ablehnten. Um den Wünschen des Antragstellers und anderer Bauherren zu entsprechen, müsste der Bebauungsplan geändert werden, doch um das zeitnah zu tun, habe die Stadtverwaltung zu wenig Personal, stellte Christoph Burkhard fest. „Wir können nicht immer neue Baustellen aufmachen“, sagte der Bürgermeister. Entweder der Bauherr plane kleiner oder er müsse sich „hinten anstellen“, bis der B-Plan geändert sei.
Sippel: Müssen verdichtete Bauweise zulassen
Doch der Ausschuss erteilte dem Verwaltungsvorschlag eine Absage und stimmte so automatisch für das Vorhaben. Er folgte damit dem Standpunkt der Sozialdemokraten. Für die stellte Heiko Sippel fest, dass sich die baulichen Ziele seit den Sechzigern geändert hätten. „Wir brauchen heute Wohnungen und müssen daher auch verdichtete Bauweise zulassen“, sagte Sippel mit Blick auf den angespannten Wohnungsmarkt. Es sei ja nur ein Einzelfall und da lasse das Baurecht Abweichungen zu.
Dem widersprach der Bürgermeister. Es sei nämlich kein Einzelfall, da ein anderer Bauwilliger bereits bei ihm vorgesprochen habe. Dann müsse man eben auch hier eine Einigung erzielen, sagte Sippel. Wie die AZ mittlerweile in Erfahrung bringen konnte, handelt es sich bei dem „anderen Bauwilligen“ um den neuen Eigentümer eben jenes Mehrfamilienhauses in der Weinheimer Landstraße, das einem Neubau Platz machen soll. Ihm könne man das nicht verwehren, was man anderen im gleichen Gebiet erlaube, brachte der Rathauschef gegenüber der AZ die Konsequenz der Ausschussentscheidung auf den Punkt.
Dass wegen der neuen Wohnungen jetzt drei ältere Ehepaare vor die Tür gesetzt werden, ärgert auch Thomas Höfling-Conradi, der nur zwei Häuser nebenan wohnt. Auch er sei „aus allen Wolken gefallen“, als die Nachbarin verzweifelt von der Kündigung erzählte. Er kritisiert vor allem die Art und Weise, wie mit den älteren Mietern umgegangen wird. Eine Alternativwohnung, das Angebot, in den Neubau zurückzukehren und vor allem frühzeitige Kommunikation, das hätte die Situation seiner Meinung nach entschärft. „Es hat jeder das Recht, zu verkaufen, aber man muss auch Rücksicht auf die Betroffenen nehmen“, sagt Höfling-Conradi.
Einen faden Beigeschmack empfindet er auch in der Vereinbarung um eine „angedrohte“ Mieterhöhung, die im Kündigungsschreiben steht. Nur wenn die Parteien bis zum 31. Dezember die Kündigung annehmen, würde auf eine Mieterhöhung von 70 Euro verzichtet. Für Höfling-Conradi ist die Vorgehensweise unverständlich: „Das klingt fast schon nach Erpressung.“