Martin Lutz verabschiedet sich nach 45 Jahren als Leiter der...

Ein letztes Mal als Leiter der Schiersteiner Kantorei: Martin Lutz dirigiert in der Marktkirche Bachs Weihnachtsoratorium.Fotos: wita/Paul Müller  Foto:
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Manchmal, wenn Martin Lutz in Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium seiner Schiersteiner Kantorei ein Zeichen gibt, erinnert die klare Gestik am Dirigentenpult an den...

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WIESBADEN. Manchmal, wenn Martin Lutz in Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium seiner Schiersteiner Kantorei ein Zeichen gibt, erinnert die klare Gestik am Dirigentenpult an den erhobenen Zeigefinger des Evangelisten Markus, dem Rechtsaußen aus Emil Hopfgartens imposanter Marmorgruppe, mit der sich Sänger und Instrumentalisten den Chorraum der Marktkirche teilen müssen. Dann denkt man auch an das Diktum von Bach als fünftem Evangelisten – und daran, dass dieser in der Person von Martin Lutz 45 Jahre lang einen glühenden Fürsprecher in Wiesbaden hatte. Einen Fürsprecher, der mit der Intensität seiner Klangrede das Publikum überzeugt und berührt hat. In seinem Amt als Schiersteiner Kantor, das er 1972 mit 22 Jahren angetreten hatte, war das nun zum letzten Mal der Fall, mit einer Gesamtaufführung der sechs Kantaten, nach der sich das Publikum erhob, um nicht nur einer bewegenden Interpretation, sondern auch einer großen Lebensleistung zu applaudieren.

Ein letztes Mal als Leiter der Schiersteiner Kantorei: Martin Lutz dirigiert in der Marktkirche Bachs Weihnachtsoratorium.Fotos: wita/Paul Müller  Foto:

„Bachs Musik ist Verkündigung“

Auf die Begeisterung und die Bravorufe antwortet der Dirigent mit einem schlichten „Danke“ und einer Verneigung, um dann im Gemeindehaus offiziell in den Ruhestand verabschiedet zu werden. Dabei rühmt Dekan Martin Mencke das Lebenswerk des Propsteikantors, der keinen Zweifel daran lässt, dass „Bachs Musik Verkündigung ist“, auch als „Wachstumsgeschichte“. Die Zahl der Kantorei-Mitglieder hat sich ja seit 1972 auf 120 verdreifacht, und dieser große Chor legt in das Abschiedskonzert im Rahmen der 22. Wiesbadener Bachwochen noch einmal alle ihm zu Gebote stehende Intensität.

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Von einem „großen inneren Raum“, den Martin Lutz erschlossen habe, spricht im Gemeindesaal der Frankfurter Kollege Michael Graf Münster, mit dem der Schiersteiner Kantor und Mainzer Professor die Bachvespern Frankfurt-Wiesbaden ins Leben gerufen hat, das ambitionierte Projekt einer zyklischen Aufführung aller Kirchenkantaten Bachs. Diesen „inneren Raum“ öffnet Lutz in der Marktkirche mit einem so beschwingt jauchzenden und frohlockenden Eingangschor, dass sich der Text auch als Programm dieses unsentimentalen Abschieds hören lassen konnte: „Lasset das Zagen, verbannet die Klage.“

Nichts ist hier auch zu spüren von einer überraschenden Zitterpartie, die Lutz offenbar von der heiteren Seite nimmt: „Sie warten alle“, wendet er sich anfangs ans Publikum, „wir auch“. Der im nahen Kiedrich lebende Altus Andreas Scholl, prominenter Solist in vielen Konzerten des Kantors, ist, wie sich bald herausstellt, von einem späteren Beginn ausgegangen und trifft erst im zweiten Teil ein, recht passend zur Choralzeile „Brich an, o schönes Morgenlicht“ – und leicht verstrubbelt nach hastigem Aufbruch im Rheingau. In der ersten Kantate wird er vom Stimmbildner Jud Perry, noch als Staatstheater-Tenor in bester Erinnerung, so souverän vertreten, dass man keineswegs von einer Notlösung sprechen kann. Perry, der ins Counter-Fach gewechselt ist, gestaltet die Arie „Bereite dich, Zion“ ausgesprochen klangschön und harmoniert mit der vorzüglichen Solisten-Besetzung, aus der neben Sopranistin Kateryna Kasper und Bassbariton Markus Flaig der Tenor Andreas Weller als berückend gestaltender Evangelist herausragt. Und Andreas Scholl kompensiert die Verspätung mit einem besonders schönen Crescendo zur Altarie „Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh“.

Die Klarheit der Artikulation, die Konzentration auf den Text durchdringt aber auch die Chorpassagen bis zur Abdämpfung der Dynamik für den „geschwächten“ Teufel im letzten Choral: Für solche Deutlichkeit geht Lutz sogar in die Knie. Und die Konzentration auf den Text wird bis in die instrumentale Klangrede spürbar. Im Bach-Ensemble machen zum Beispiel der Geiger Ingo de Haas und seine Kollegin Margaret MacDuffie auf Barockviolinen deutlich, welche Kompetenzen Martin Lutz in einem knappen halben Jahrhundert musikalischer Exegese um sich versammeln konnte. Und der ansteckende Enthusiasmus klingt so frisch, als sei Lutz in diesen 45 Jahren überhaupt nicht gealtert.