Konzert mit großer Sause

Fest in süd-, mittel- und nordamerikanischer Hand war der Friedrich-von-Thiersch-Saal des Kurhauses beim Konzert von The Orchestra of the Americas. Die jungen Spitzenmusiker...

Anzeige

WIESBADEN. Fest in süd-, mittel- und nordamerikanischer Hand war der Friedrich-von-Thiersch-Saal des Kurhauses beim Konzert von The Orchestra of the Americas. Die jungen Spitzenmusiker aus über 25 Ländern der westlichen Hemisphäre feierten den 100. Geburtstag von Leonard Bernstein (1918-1990) beim Rheingau Musik Festival mit gleich zwei Klavier-Koryphäen. Unter der Leitung von Carlos Miguel Prieto stellte die fabelhafte Venezulanerin Gabriela Montero ihr „Latin Concerto“ vor. Und die in Moskau geborene Kristina Miller meisterte den aufwendigen Klavierpart in Bernsteins Sinfonie Nr. 2 locker und präzise.

Zwei Seelen wohnen in der Brust

Zwei Seelen wohnen in der Brust des Heitor Villa-Lobos, dessen „Bachianas Brasileiras“ für Orchester Nr. 2 W 247 das über dreistündige, aber stets kurzweilige Konzert eröffnen. Die europäische Musik-Tradition hat der brasilianische Komponist ebenso verinnerlicht wie das musikalische Erbe seiner Heimat. So erinnern die Satzbezeichnungen der „Bachianas“ an Suiten des J.S. Bach, fußen aber gleichermaßen auf brasilianischer Folklore.

Etwa Preludio, „Lied des Capadocio“ (musizierender Schürzenjäger), klanglich herrlich schwülstig aufgeladen. Oder die Kontrapunkte nicht verschmähende Toccata, Fahrt in einer ländlichen Bimmelbahn mit waschechtem Sirenenton und dezentem rhythmischen Gerassel und Geschnaufe. Angetreten mit einer üppigen Schlagwerker-Phalanx, zeigt Amerikas Orchesternachwuchs schon hier sein Feeling fürs afrokubanische Idiom. Der Rhythmus spielt dann auch in Monteros 2016 in Leipzig uraufgeführtem „Latin Concerto“ nach filigranem Diskantgeklingel am Klavier die erste Geige. Traditionell ist allein die Satzanordnung „schnell-langsam-schnell“. Da kommt’s gleich knüppeldick, riffartige Phrasen werden jazzmäßig aufgepeppt. Bernstein ist nicht fern, aber auch Gershwin und Strawinsky lassen grüßen. Eine wundersame Ballade ist der Dialog zwischen Klarinette und Klavier, gleichsam von Streicher-Klangwatte umflort.

Anzeige

Perpetuum auf zündenden Rhythmen

Zum Finale dann eine Art Perpetuum auf zündenden südamerikanischen Rhythmen. Da ist das junge Orchester auf gleicher Höhe mit der gestandenen Solistin, die mit immer wieder neuen, rasant gehämmerten Tonketten aufwartet. Es hat gejazzt – und wie! Monteros Zugaben-Spezialität sind Improvisationen auf Zuruf, hier der unverwüstliche Schlager „O sole mio“, den sie durch alle möglichen Stilarten jagt, ob nun Bach-Invention oder Ragtime.

Schließlich kommt Bernstein selbst zu gutem Ton. Seine Sinfonie Nr. 2 „The Age of Anxiety“ (Zeitalter der Angst) von 1947 gründet auf dem umfangreichen Gedicht von Wystan Hugh Auden. In Prolog und 14 Variationen erstellt der US-Komponist („Westside Story“) ein beklemmendes Szenario, das mit der verhaltenen Klage zweier Klarinetten beginnt. Ein schier allmächtiger Trauermarsch schlägt da in Bann, zuweilen in gefährlicher Schräge, mit dem Klavier als rhythmischen Antreiber, aber auch als Beschwichtiger. Und mündet in einem paradiesischen Hymnus, wundersames Panorama der Orchesterstimmen - mit unvermeidlichem Glockenton.

Es folgt eine wahre Zugaben-Session. Mit der famosen Pianistin, die prestissimo einen zündenden Rag abzieht. Mit spontan aus dem Orchester hervortretenden Solisten, die zwischen „Caravan“-Jazz und „La Cucaracha“ ihre Show abziehen und dabei ihre Landesflaggen schwenken. Es darf getanzt werden, vor und auf der Konzertbühne. Ein verfrühter Karneval im Kurhaus – einfach köstlicher Jugendstil.

Von Klaus Ackermann