Auch wenn das Buch einen Venedig-Besuch nicht ersetzt, wird man mit ihm die Einmaligkeit dieser Stadt mit intensiveren Blicken sehen. Simone Sassen steuert Fotos bei.
DAS BUCH
Cees Nooteboom
Venedig
Mit Fotos von Simone Sassen. Deutsch von Helga von Beuningen. Suhrkamp-Verlag, 240 Seiten, 24 Euro.
Wie so viele andere Literaten – man denke nur an Thomas Manns „Tod in Venedig“, an Wolfgang Koeppens „Ich bin gern in Venedig warum“ sowie an Donna Leon mit ihren Brunetti-Krimis – hat Cees Nooteboom, der große holländische Schriftsteller und Dauer-Weltreisende, ein ganz besonderes Verhältnis zur Lagunenstadt im Nordosten Italiens. Der Zauber Venedigs überwältigt aber nicht nur Künstler, sondern alljährlich Millionen Besucher, was Alfred Andersch in seinem Roman „Die Rote“ schon 1960 so kommentierte: „Es ist idiotisch gewesen, nach Venedig zu fahren, jeder andere Ort wäre richtiger gewesen als ausgerechnet dieses verkitschte Sight-Seeing-Zentrum, in dem es nichts gibt als Touristen und Nepp.“
Diese Feststellung aus Zeiten vor dem eigentlichen, sich seit Jahren beständig selbst überschlagenden Hype wird zunehmend selbst von Venezianern geteilt. In Scharen wandern sie seit vielen Jahren in Stadtteile auf dem Festland ab. Allerdings können weder diese Flucht noch die Kreuzfahrt-Riesen vor dem Markusplatz dem eigentümlichen Reiz Venedigs wirklich etwas anhaben. Wer die Gründe dafür kennenlernen möchte oder sich einfühlsam auf eine eigene Reise dorthin vorbereiten möchte, ist mit Cees Nootebooms Venedig-Band bestens bedient. In ihm sind Nootebooms bisher verstreut erschienen Venedig-Texte seit den achtziger Jahren endlich gesammelt erschienen – zusammen mit zwei extra für diese Edition geschriebenen Beiträgen und mit außerordentlich stimmungsvollen Fotografien von Simone Sassen.
Erneut erweist sich, welch sensibler Beobachter Cees Nooteboom ist, zu welch weitsichtigen wie geistreichen Erkenntnissen er kommt – und in welch einfühlsamer Sprache er das alles zu beschreiben weiß. Er versteht es, während er „in den Kellern der Erinnerung umherirrt“, seine Eindrücke über Jahrzehnte hinweg miteinander zu verbinden, lässt Zeiten zusammenfließen, ohne Entwicklungen und Unterschiede zu nivellieren. So schreibt er 2018: „Die Stadt wird zu einem Teil meines Lebens werden, wie ich nie ein Teil ihres Lebens sein werde. Sie wird mich fressen, wie sie alle ihre Geliebten und Bewunderer stets verschlungen hat.“ Der hier beschriebene Prozess, die Entwicklung der Sicht auf das Objekt könnte mit wenig anderen Worten auch das Verhältnis der Leser zum Buch und ihrem Autor beschreiben: Von unterschiedlichen eigenen Lebenserfahrungen und in speziellen Lebenssituationen wird man dieselbe Literatur unterschiedlich wahrnehmen, eigene Erlebnisse mit ihr verbinden.
So kann ein Buch mit jeder Lektüre etwas anderes auslösen und bewirken. Aber wenn man auf je spezielle Weise seinen Zugang gefunden hat, wird Literatur ihren Zauber immer wieder neu ausspielen können – erst recht bei einem Autor wie Cees Nooteboom. Wenn er uns über seine Empfindungen beim Betreten von und dem Leben in Venedig berichtet und an seinen Erfahrungen teilhaben lässt, kann das nur eine Bereicherung sein. Auch wenn sein Buch einen Venedig-Besuch nicht ersetzt, wird man mit ihm die Einmaligkeit dieser Stadt mit intensiveren Blicken sehen.