Jetzt wird sein Wohnzimmer zur Bühne

Aus seinem Wohnzimmer gibt Norman Keil per Live-Stream über Facebook, Instagram und YouTube kleine Konzerte für seine Fans. Foto: Linda Roth
© Linda Roth

Der Gießener Musiker Norman Keil erzählt von seinen Existenzängsten in Zeiten der Corona-Krise und von einem Videoprojekt, über das er in Kontakt mit dem Publikum treten will.

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. Giessen. Keine Konzerte, keine Gage - freiberufliche Künstler trifft die Corona-Krise hart. Dass ein Virus innerhalb kürzester Zeit die gesamte Kulturbranche zum Erliegen bringt, hätte noch Anfang des Jahres keiner für möglich gehalten. Drei Tage brauchte es, bis der Sänger Norman Keil realisierte, was gerade passiert. Die Schockstarre ist zwar mittlerweile wieder vorbei, Live-Auftritte sind aber auf unbestimmte Zeit passé. Was bleibt, ist die Ungewissheit.

"Anfangs habe ich das alles nicht wahrhaben wollen", erzählt der 39-Jährige im Gespräch mit dieser Zeitung. Als die ersten Großveranstaltungen mit über 1000 Leuten abgesagt werden mussten, hoffte Keil, dass es ihn, den "kleinen, unbekannten Künstler, der vor maximal 300 Besuchern spielt", nicht trifft. Doch die Hoffnung schwand, denn kurze Zeit später galt das Verbot für alle. Anders hätte es auch keinen Sinn gemacht, sagt Keil. Ob 100 oder 1000 Konzertbesucher - die Ansteckungsgefahr ist da.

Die Absagen treffen nicht nur den Sänger. Durch das Coronavirus habe sich auch für seine Begleitmusiker schlagartig alles verändert. Die Möglichkeiten eines Instrumentalisten sind begrenzt und Soloprojekte eher die Ausnahme. "Als Sänger kann ich mit der Gitarre auch was allein machen. Ein Schlagzeuger hat es da schon schwerer."

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Doch die Liste der Betroffenen ist noch länger. Auch die Arbeit der Veranstaltungstechniker ist lahmgelegt. Fallen die Künstler aus, betrifft das auch die Jobs im Studio. Nicht zu vergessen die Bühnenbauer, Agenturen, Clubbesitzer, Thekenpersonal, Reinigungskräfte - sie alle gehören zu einem System, das ohne den Künstler nicht funktioniert. "Das ist schon finster."

Seit über einer Woche steht alles still. Zeit zum Durchatmen bleibt Keil jedoch nicht. Veranstalter müssen kontaktiert werden. Viele Optionen hat der in Gießen lebende Sänger nicht. "Damit mir nicht alles wegbricht, versuche ich, die geplanten Konzerte in den Herbst zu verschieben." Immerhin eine kleine, wenn auch unsichere Perspektive. Etwa 40 Konzerte verlegen - ein logistischer Kraftakt, bei dem der Terminkalender mit Bandkollegen, Clubs und Agenturen neu abgestimmt werden muss. Sollte sich bis zum Herbst tatsächlich alles normalisiert haben, wäre der Sänger nonstop unterwegs. Das könnte die jetzigen Verluste auffangen. "Vorausgesetzt, ich überlebe die Wochen oder Monate bis dahin."

Mit Konzerten verdient Keil sein Geld. Der Verkauf von CDs und Fanartikeln ist eher ein kleiner Nebenverdienst, Beiwerk, das man mitnimmt. Ein regelmäßiges festes Einkommen gibt es nicht. "Das variiert. Es gibt Monate, da habe ich wenig Auftritte, bin aber im Studio und arbeite an einer neuen Platte." Diese Zeit wechselt mit den Monaten, in denen der Sänger mit seinen Musikern auf Tour ist und Konzerte gibt. Mal spielen sie vor ein paar hundert Besuchern, mal vor 50. Geld beiseite zu legen sei kaum möglich. Das nehmen die Künstler in Kauf. "Wir sind getrieben von unserer Berufung, Musik zu machen."

Ab und zu wird ein neues Album produziert. Die Kosten dafür liegen zwischen 10 000 und 30 000 Euro. Inklusive CD-Pressung, Vervielfältigung und Promotion. "Wir investieren unser Geld in Instrumente, eine neue Produktion oder andere Dinge, beispielsweise einen Tour-Bus. Ich will ja auch weiterkommen." Dass er nun überhaupt keine Einnahmen mehr hat, "dieses Worst-Case-Szenario hätte ich nie für möglich gehalten."

Der Gießener ist schon lange im Geschäft, stieg vor zehn Jahren als Gitarrist und Songschreiber bei der Rockband "Wingenfelder" ein. Sechs Jahre später startete er seine Solo-Karriere. Seitdem macht er sein Ding. Das Musik-Business ist hart. Die Corona-Krise macht es noch härter.

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Die Stimmung unter den Künstlern ist deprimiert. Dennoch hoffen alle, dass aus der Krise etwas Positives hervorgehe. Die Wohnzimmerkonzerte in den sozialen Medien haben in den vergangenen Tagen deutlich zugenommen. "Wir haben jetzt Zeit. Die Chance, dass die Menschen darüber viel gute Musik entdecken, war nie größer. Das müssen wir nutzen."

Doch es kostete Keil einiges an Überwindung. "Social Media war bisher nie meins. In dem Bereich war ich eher ein Schlunzi, hab' wenig Zeit dafür aufgewendet." Inzwischen hat sich das geändert. Seine Hoffnung ist nun, auf diesem Wege vielleicht ein paar neue Fans zu gewinnen. Vielmehr könne er jetzt sowieso nicht machen.

Livestreams über Facebook, Instagram, YouTube: Noch fühlt es sich für den Sänger absurd an. "Ich hatte schon immer das Problem, mit dem Handy zu reden und so zu tun, als stünden die Leute vor mir." Für die junge Generation ist das normal. Norman Keil hingegen muss über seinen Schatten springen. Die ersten Hemmschwellen sind überwunden. "Wertungsfrei", fügt er mit einem Grinsen hinzu. "Ich setz' mich hin, spiele ein paar Songs. Völlig egal, ob ich stimmlich gut drauf bin, mal schief singe oder mich verspiele. Die Leute mögen es und freuen sich, dabei zu sein." Das komische Gefühl ist weg. Die Motivation da. Fans und Künstler kommen sich näher, wenn auch nur virtuell. "Hauptsache, wir meistern die Krise zusammen."

Überhaupt sei er begeistert von seinem Publikum. Die meisten wissen, dass die Krise für die Künstler das "Aus" bedeuten könnte. Dementsprechend hoch ist die Solidarität und Unterstützung. Viele verzichten auf die Rückgabe bereits gekaufter Tickets. "Das ist schon geil." Der Sänger startete außerdem einen Spendenaufruf. Die Resonanz habe ihn überwältigt. Den April bekomme er nun immerhin überbrückt. Was danach kommt: "Keine Ahnung. Vielleicht muss ich Hartz IV anmelden und Wohngeld beantragen." Den Stolz ablegen und die Hilfe, die es gibt, in Anspruch nehmen, fällt schwer. "Auch wenn ich das überhaupt nicht will. Wahrscheinlich bleibt mir keine andere Wahl."

Die unfreiwillige Pause macht Keil zu schaffen. Doch er versucht, sie bestmöglich zu nutzen. Erste Anträge zur einmaligen Soforthilfe von der Gesellschaft für Verwertung von Leistungsschutzrechten und der Orchesterstiftung sind bereits rausgeschickt. "Es sind kleine Beträge" sagt Keil. "Aber es ist schön, dass es sie gibt." Auch die Künstlersozialkasse habe sich bereits bei ihm gemeldet und angeboten, die Gewinn-Prognose für dieses Jahr runterzusetzen. Damit ließe sich zumindest der monatliche Betrag, der seine Kranken- und Sozialversicherung abdeckt, senken. Noch vor einem Monat hat sich der Sänger über diese Summe überhaupt keine Gedanken gemacht. Die kommenden Tage wird er noch einige Anträge für Corona-Hilfe ausfüllen. Was am Ende dabei rauskommt, bleibe abzuwarten.

Doch den Kopf in den Sand stecken, gelte nicht. Die Osterferien will er für neue Songs nutzen. "Die Welt ist gerade so im Umbruch, das muss ich aufnehmen." Wegschauen und raushalten sei für ihn keine Option. Keil wird sich mit seiner Mannschaft neu formieren und bis Herbst vielleicht eine neue Platte veröffentlichen.

Der Zusammenhalt in der Branche ist groß. Auch unter den lokalen Musikern. Man tauscht sich aus und gibt sich Mut. Gemeinsam wird nach einem Konzept gesucht, dass die Krise übersteht und die zunehmenden Streaming-Talkshows und Online-Konzerte bündelt. Einen Appell richtet der 39-Jährige an die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender: Sie seien jetzt in der Verantwortung. "Die lokalen und weniger bekannten Künstler unterstützen, das wäre in der Krise ein wichtiges Zeichen."

Von Ines Jachmann