„Gesicht der Nacht“ heißt der Doppelabend, den der neue Mannheimer Ballettdirektor Stephan Thoss zusammen mit dem Isländer Frank Fannar Pedersen eingerichtet hat....
MANNHEIM. „Gesicht der Nacht“ heißt der Doppelabend, den der neue Mannheimer Ballettdirektor Stephan Thoss zusammen mit dem Isländer Frank Fannar Pedersen eingerichtet hat. „Gesichter der Nacht“ könnte auch über vielen der Werke des Choreografen Thoss stehen, der eine Vorliebe hat für Exkursionen in surreale Welten und das Unterbewusstsein von Theaterfiguren. Begonnen hat Thoss am Nationaltheater mit einem grundkonventionell nacherzählten „Sommernachtstraum“ voll starker Tänzercharaktere. Jetzt aber feiert er sein Faible für die Fantastik des Traums.
„Nightbook“ ist die erweiterte Überarbeitung eines Stücks, das Thoss bereits 2010 als Ballettchef in Wiesbaden entwickelt hat. Vorne traumtanzt eine Dichterin hochexpressiv mit ihrer männlichen Muse, die anfangs unterm Schreibtisch schlummert. Über einen Vorhang huschen stilisierte Stummfilmbilder, die an Buñuel und Dalí erinnern, hinten erwachen Szenen wie aus einem Magritte-Museum zum Leben.
Die unvermeidlichen Männer mit Hut und Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, ein lebender Leuchter, der kopfüber von der Decke hängt, und ein schwarzer Adonis im giganto-grotesken Reifrock huschen in einem Bilderbogen vorbei. Im Brausekopf der Autorin schwirrt es wild. Thoss treibt seine Tänzer über siebzig Minuten zu Musik von Schostakowitsch, Bach, James Brown und Kinosoundtracks in energiegeladene Miniaturen. Körperlich ist das eine Herausforderung, ästhetisch eine Enttäuschung.
Es flackern Schlaglichter auf Typen und Posen. Hier ein Mann mit Blumentopfkopf, da ein Vogelbauer voller Äpfel, dort ein Butler mit Fisch. Es ist so viel zu sehen und doch so wenig, was bleibt. Dass sich bei einem Traum die Bilder schnell verflüchtigen, liegt in seiner Natur, auf der Bühne aber ist das kein gutes Zeichen. Die Schriftstellerin träumt so wild und wirr, dass man ihr erst eine Anstaltspackung Ritalin, dann einen harten Lektor und schließlich einen Berufsberater zur Umschulung verschreiben möchte.
Tanzend auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Wie man besser träumt, zeigt Frank Fannar Pedersen, der von 2011 bis 2014 in Wiesbaden tanzte. In seinem Beitrag „Var“ (Es war) spürt er in 40 kurzweiligen Minuten der verlorenen Zeit nach. Wo beginnt die Vergangenheit, was sehen wir als Zukunft? Am Anfang weichen die Menschen langsam zurück, sie scheinen den Erinnerungen hinterherzutasten, dann wieder drängt die Gruppe zu pulsierenden Streichern gegen Widerstände voran. Am Ende, bei einem etwas schwülstig geratenen Pas de deux, sind Mann und Frau offenbar ganz im Hier und Jetzt. Die Tänzer haben dabei anfangs Straßenschuhe an, die sie im Laufe des Stücks abwerfen. Da kann jeder mal schauen, wie es ist, in den Schuhen des Anderen zu stecken.
Am Ende markieren die Sneaker selbst die Straße. Und vor allem weisen sie den Weg, denn einige Treter leuchten wie Taschenlampen. Und sie haben phosphoreszierende Sohlen, mit denen die Tänzer als Puppenspieler im Schwarzlichttheater symbolische Bilder erschaffen.
Pedersen kultiviert eine choreografische Ökonomie des Ausdrucks und eine poetische Vielfalt der Formen, konzentriert seine Reflexionen über die Zeit in drei grundverschiedenen, aber schlüssig verklammerten Teilen. Das ist als Eröffnungsstück von „Gesicht der Nacht“ eine Verheißung, die der Doppelabend dann aber nicht einlöst.