Von Christoph CuntzJVA BUTZBACH Selbst ernannte „Gefangenen-Gewerkschaft“ kritisiert Diskriminierung
WIESBADEN - Häftlinge als ausgebeutete Billigarbeiter? Diesen Eindruck muss gewinnen, wer der Argumentation einer selbst ernannten „Gefangenen-Gewerkschaft“ folgt. Die hat erst kürzlich wieder die „sozial- und arbeitsrechtliche Diskriminierung in der Sonderwirtschaftszone Knast“ angeprangert: kein Mindestlohn, keine Rentenversicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Kündigungsschutz.
Gefangene im Hungerstreik
- KEINE PFLICHT IN RHEINLAND-PFALZ
Die rot-grüne Landesregierung in Rheinland-Pfalz hat die Arbeitspflicht in den Gefängnissen 2013 abgeschafft. „Nur der bekommt Geld, der auch arbeitet“, sagt eine Sprecherin des Mainzer Justizministeriums. Die Arbeitsplätze in den Gefängnis-Werkstätten seien begehrt. „Jeder, der Arbeit hat, ist froh darum“. Die Landesregierung sieht auch keine Veranlassung für eine Initiative, nach der für Häftlinge in die Rentenversicherung eingezahlt wird: Die hätten keine Miete zu zahlen. Und auch die Kosten des normalen Lebens übernehme die Anstalt.
Zumindest für einen Teil dieser Forderungen hat Karl Heinrich Schäfer Verständnis. Die Evangelische Hochschule Darmstadt hat ihn zum Honorarprofessor für Strafvollzug berufen. Vor allem aber war er Leiter der Justizvollzugsanstalten in Schwalmstadt und Butzbach – wo Anfang Dezember einige Gefangene in „Hungerstreik“ getreten waren, um der Forderung nach Mindestlohn Nachdruck zu verleihen. Ein angemessener Lohn stünde ihnen zu, sagt Schäfer. 16 Justizvollzugsanstalten gibt es in Hessen. Hier herrscht Arbeitspflicht und eine 35-Stundenwoche. Die Haftanstalten verfügen über Schlossereien, Schreinerein, Wäschereien und Bäckereien sowie über eine Druckerei und eine Buchbinderei. In diesen Eigenbetrieben werden Arbeiten für die Haftanstalten selbst erledigt, aber auch Möbel für hessische Behörden gefertigt. Darüber hinaus nehmen die Gefängnisse Aufträge meist kleinerer und mittelständischer Unternehmen an. Papier, Kunststoff oder Metall verarbeitende Betriebe lassen montieren und sortieren.
Zwischen 9,41 Euro und 16,59 Euro erhält ein Häftling. Pro Tag. Wer gut ist, kriegt Leistungszulage: bis zu 20 Prozent des Grundlohns. Höher könnte der Lohn schon sein, meint Schäfer. Zwar kein Mindestlohn, weil die Produktivität in den Gefängnis-Werkstätten dann doch zu niedrig ist. Aber wenigstens eine angemessene Bezahlung müsse es geben. Vor allem aber müssten die Häftlinge in die Rentenversicherung einbezogen werden.
Neues Gesetz nötig
Letzteres ist eigentlich schon seit 1976 gefordert. Das Strafvollstreckungsgesetz hat zumindest die Voraussetzung hierfür geschaffen. Doch zur Umsetzung wäre ein weiteres Bundesgesetz nötig, das seit 40 Jahren auf sich warten lässt. Etliche Bundesländer, die die Beiträge zur Sozialversicherung übernehmen müssten, sind dagegen. Karl Heinrich Schäfer mahnt: Ein Staat, der zugesagte gesetzliche Regelungen jahrelang verschiebt, gefährde seine Glaubwürdigkeit. Und: „Von Gefangenen, die deshalb einen negativen Eindruck vom Recht erhalten, kann man nur sehr schwer rechtstreues Verhalten verlangen“.
Schäfers Forderung nach tarifähnlicher Entlohnung hält das Justizministerium in Wiesbaden entgegen: Dann wären auch die Kosten der Haft zu berechnen, „die einen erheblichen Teil des Einkommens aufzehren würden“. Im Übrigen verweist man auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg. Das habe zutreffend festgestellt: Gefangene stehen mit ihrem Verdienst nicht schlechter als ein Arbeitnehmer, von dessen Mindestlohn Lohnsteuer und Sozialabgaben abgezogen werden, und der darüber hinaus noch Miete zahlt.
Und das sind die Fakten in Hessen: Hier verdient ein Häftling in Hessen derzeit, wenn’s hoch kommt, 330 Euro im Monat. Die Haftkosten liegen bei gut 410 Euro monatlich, wobei 49 Euro fürs Frühstück, 90 Euro jeweils für Mittag- und Abendessen sowie 187,85 Euro für die Unterkunft veranschlagt werden.
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