"Menschen beurteilen bauliche Ästhetik erstaunlich einheitlich? Keinesfalls! Moderne gleich billig und fantasielos? Manchmal ja, manchmal nein."
Der Anstoß der AZ, eine Themenreihe Architekturkritik neben die so selbstverständlichen Genres von Kunst-, Film-, Theater- und Literaturkritik zu stellen, ist gut. Und sie ist besonders dann gut, wenn sie kundig und klug differenziert. Der AZ-Beitrag „Die Zukunft von Mainz heißt Stadtreparatur“ pauschaliert eher. Dabei sind öffentliche Debatten nötig, weil Architektur und Stadtentwicklung nie Privatsache sind. Und sie können nicht ohne Kontroversen auskommen: „Stadt ist Stadt, wenn sie mit sich selbst uneins ist“, hat Gerold Reker, Präsident der Architektenkammer Rheinland-Pfalz, unlängst zum zehnjährigen Jubiläum des Zentrums Baukultur postuliert.
Link: "Fachgremien in Mainz bremsen Diskurs in Sachen Denmalpflege"
Wer so denkt, sucht das Urbane nicht in Achsmaßen oder Fensterlaibungen, sondern in der Bürgerschaft. In diesem Sinn darf die Stadtentwicklung nicht den Renditeinteressen Einzelner überlassen werden. Der leidenschaftlich und öffentlich geführte Diskurs darüber, wohin sich die Stadt entwickeln soll, ist Ausweis von Verantwortungsbewusstsein und Engagement. Das macht die Stadt stark – zumindest dann, wenn es ums Große und Ganze geht.
Vielfalt der Positionen
Genau das hat in Mainz in den letzten Jahren oft stattgefunden. Die Vielfalt der Positionen kennt der aufmerksame AZ-Leser, wenn er beispielsweise den Diskussionsprozess um die Erweiterung des Gutenbergmuseums verfolgt hat. Die Urteile zur baulichen Ästhetik gingen und gehen weit auseinander. Es wurde und wird weiterhin debattiert, erklärt und gefragt. Ganz ähnlich in den Ludwigstraßen-Foren und bei den neuen Baugebieten wie dem Heiligkreuzareal – überall wird die Stadtentwicklung breit und öffentlich verhandelt. Jeder kann sich informieren und seinen Beitrag leisten. Das alles ist ein Gewinn für die Stadt Mainz und ihr urbanes Leben. Deshalb sind ja auch die Sitzungen des Gestaltungsbeirates zu Recht öffentlich.
Vom allgemein-verbindlichen Urteil einer monolithischen Bürgermeinung lässt sich da nicht im Ernst sprechen. Auch die Forderung nach einem Rückgriff auf klassische Muster bei gleichzeitiger Verdammnis des Zeitgenössischen, ist genauso pauschal wie falsch. Die Wahrheit ist doch so, wie es der urbane Raum sein soll: kleinteiliger, bunter, vielfältiger. Natürlich gibt es auch schlechte Gebäude in Mainz, aber nicht nur neue. Natürlich gibt es auch gute Gebäude in Mainz, aber nicht nur alte. Und wer nicht glaubt, dass Urbanität mit dem bunten Leben, das sich der Flaneur wünscht, in einer neuen Stadt Platz findet, der sollte nach Rotterdam fahren und das Staunen lernen.
Mainz braucht mehr Debatten
Urbanität braucht Qualität. Und Qualität kann niemand verordnen. Qualität entsteht aus Verantwortung. Am Ende sind es keine Satzungen, sondern Bauherren – kleine wie große Investoren, öffentliche, halböffentliche oder private –, die über die Qualität ihrer Projekte bestimmen. In ihrer Verantwortung liegt es, sich für gute Planung und für Verfahren zu entscheiden, die Qualität möglich machen. Die Verantwortung der Öffentlichkeit ist es, diese Verfahren zu fordern. Im Einzelfall kann das auch scheitern. Wer aber den Mut nicht hat, bei Strafe des Scheiterns den Weg in die Zukunft zu gehen, ist schon gescheitert. In diesem Sinn hat sich in den letzten Jahren in Mainz viel bewegt.
Und wer nichts will, den wird die rigideste Gestaltungssatzung nicht daran hindern, Belanglosigkeiten in die Stadt zu pflanzen. Der Rückwärtsgang führt nicht nach vorn. Mainz braucht vielmehr sachkundige und engagierte Debatten.
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